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STUTTGART/ Liederhalle: 7. SINFONIEKONZERT mit dem Staatsorchester „INS OFFENE“ – verschmelzen mit der Natur

19.06.2016 | Konzert/Liederabende
  1. Sinfoniekonzert „Ins Offene!“ mit dem Staatsorchester Stuttgart in der Liederhalle Stuttgart

VERSCHMELZEN MIT DER NATUR: Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Stuttgart am 19. Juni 2016 im Beethovensaal der Liederhalle/STUTTGART

Pascal Dusapin ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten Frankreichs – und er ist weitgehend Autodidakt. Gemeinsam mit der ausgezeichneten amerikanischen Cellistin Alisa Weilerstein spielte das exzellent disponierte Staatsorchester Stuttgart unter der feurigen Leitung von Markus Stenz die deutsche Erstaufführung seines Cellokonzerts mit dem beziehungsreichen Titel „Outscape“. Beschrieben wird hier das Verschmelzen mit der Andersartigkeit einer unbekannten Natur. Denn Dusapin hat als 25jähriger die Arktis selbst gesehen. Dieses gewaltige Erlebnis hat er nun zu inspirierenden Klängen verarbeitet. Das Solo-Instrument bewegt sich hier zum Orchester hin und umgekehrt, was raffinierte Klangschichtungen zur Folge hat. Glissando – und Tremolo-Effekte verglühen dabei im Cello-Spiel, das Alisa Weilerstein in hervorragender Weise beherrscht. Ein Echo kommt vom Cis des Cellos dann gleich zu Beginn von der Bassklarinette herüber, dazu erzittert die große Trommel. Es entsteht ein wahrhaft arktischer „Eis-Sound“ im knarzenden Schnee. Alles strebt ins Offene, Ungewisse, Freie. Ballast wird einfach abgeschüttelt. Nach den dahingleitenden 36 Takten des Solo-Cellos, der Bassklarinette und des Schlagzeugwetterleuchtens setzt die Pikkoloflöte ein, was zu ganz ungewöhnlichen und reizvollen harmonischen Effekten führt. Schwebend treten die Streicher in den Raum, Gongs und Glockenspiel wirken ausgesprochen mystisch, die Flöte betätigt einen facettenreichen Zickzack-Kurs. Es kommt zur wilden Entfesselung rhythmischer Urgewalten, die sich mit immer größerer Intensität behaupten. Einflüsse von Pierre Boulez, Edgar Varese und Steve Reich sowie der seriellen Musik treten scharf hervor. Die Kantilene des Solo-Cellos markiert eine starke Eisesstarre. Drei Oktavräume über dem Cis führen zu einem Einfrieren dieses Tones mit Vibrato-Momenten. Der Fluss der Gedanken ist nach Pascal Dusapins eigenen Worten stets durchzogen von dem der Musik. Die Musik besitzt eine eigene Dynamik. „Outscape“ bedeutet hier, zu entkommen und einen ganz eigenen Weg zu finden. Dafür erfindet Dusapin magische und zueilen sogar neoromantische Klänge. Das Cello wird hier zum Orchester und das Orchester zum Cello. Die Übergänge sind fließend und klanglich erstaunlich. Das Cello beginnt mit dem tiefen Cis, dann spielt die Bassklarinette denselben Ton.

Das Staatsorchester Stuttgart unter der einfühlsamen Leitung von Markus Stenz und Alisa Weilerstein als Cellistin gingen im Beethovensaal ganz deutlich aufeinander zu. Sie präsentierten gemeinsam einen überaus bewegenden Gesang mit geradezu „chamäleonhaften“ Veränderungen. Als Zugabe spielte Alisa Weilerstein noch ein Bach-Stück. Anschließend erfolgte eine sehr überzeugende Wiedergabe der Sinfonie Nr. 4 in Es-Dur „Romantische“ von Anton Bruckner in der zweiten Fassung aus dem Jahre 1878. Gerade der Kopfsatz wurde in zügigen Tempi musiziert, geringfügige Intonationstrübungen des Horns fielen nicht ins Gewicht. Auch hier dominiert in gewaltiger Weise das Naturerlebnis, das wie ein Vulkan hervorbricht. Markus Stenz gestaltete den Beginn mit schattigen Echo-Rufen in der reinen Waldesstimmung durchaus berührend. Wie aus tiefem Schweigen tauchte plötzlich das Hornthema auf und der Quint-Intervall stach hervor. In ruhiger Fortspinnung schwebte alles bis zur Umkehrung weiter. Wilde Urgewalt beherrschte den Bass. Von den Geigen wurden die Bratschen angelockt. Und die Steigerung des Schlussmotivs mit dem ersten Thema gefiel auch aufgrund der vielgliedrig gespielten Durchführung mit dem ersten Hornruf. Feierlich erklang der Choral der Blechbläser, was schließlich zu einer triumphalen Coda führte. Franz Schubert ließ beim zweiten Andante-quasi-Allegretto-Satz grüßen. Leidenschaftlich folgte der Gesang der Streicher und Celli, wobei sich wieder stark akzentuiert das Quint-Intervall meldete. Eine in sich gekehrte Bratschenmelodie wurde bei dieser Interpretation zum kunstvollen Doppelthema verschmolzen. Die Intervalle mündeten schließlich in einen grandiosen Dankes-Jubel. Noch besser wie diesen Satz traf Markus Stenz mit dem feinnervig musizierenden Staatsorchester Stuttgart den dritten Scherzo-Satz, wo Jagdhörner durch die dämmerige Waldesstille tönten. Selbst die gefühlvollen Töne der Bratschenmelodie kamen mit der Antwort des Horns sowie später Streichern und Holzbläsern nicht zu kurz. Harmonierückungen beherrschten das betont spielerische Trio. Unheimlich begann das Finale. Ferne Hornrufe erhoben sich drohend – Markus Stenz gestaltete mit dem Staatsorchester Stuttgart gerade Angst und Schrecken dieser Musik überaus packend und fesselnd. Intervalle mit Fünfer-Rhythmus und Triole setzten sich rasch durch, man dachte an den ersten Satz. Dämonische Gewalt reckte die Faust düster empor, in gebieterischer Größe meldete sich der Hornruf. Ein weit ausholendes Posaunenthema zeigte seine Macht. Das Material bekam immer neue Gestalten bis zur Reprise. Wie die Coda hier als monumentale Hymne immer deutlicher zur Gewissheit emporwuchs, machte Markus Stenz mit dem Staatsorchester in schauerlich-imponierender Wucht deutlich.

Ovationen und Jubel. 

Alexander Walther

 

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