Glücklich vereint: Elisa Badenes (Lise) und Adhonay Soares Da Silva (Colas). Copyright: Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett
„LA FILLE MAL GARDÉE“ 3.3.2018 (Wiederaufnahme-Premiere) – Wehmütige Erinnerungen
In der Spielzeit 1999/2000 feierte Frederick Ashtons Erfolgsstück seine Stuttgarter Premiere, eine der wenigen Bereicherungen klassischer Handlungsballette während der nun zu Ende gehenden Direktionszeit von Reid Anderson. Nach einer Neueinstudierung im Frühjahr 2009 holte der scheidende Intendant die überaus beliebte, weil so unbeschwerte Choreographie im ländlichen Milieu im Zuge seines persönlichen Abschiedsprogramms noch einmal auf die Bühne – in einer sichtbar aufgefrischten Ausstattung und Kostümierung, deren originaler Entwurf von Osbert Lancaster stammt. Nach so langer Pause wurde daraus im Prinzip ein echter Premierenabend für alle Tänzer inklusive des hier so stimmungsvoll einbezogenen Corps de ballet, das ehrlich gesagt von zwei Ausnahmen bei den Solorollen abgesehen dem Vergleich mit früheren Aufführungen am meisten standhielt. Als Anteilnehmende an der schlussendlichen Verbindung des Hauptpaares Lise-Colas über die trickreich umgangenen Hürden der elterlich bestimmten Verheiratung mit dem reichen, aber verklemmten und beschränkten Gutsbesitzersohn Alain hinweg steht ihnen die Freude und der Spaß an ihren spritzig ins Geschehen integrierten Tänzen mit dem Einsatz von Sicheln, Holzstöcken und Bändern ins Gesicht geschrieben. Allen voran die Freunde des Liebespaares, von denen manche/r denkbar bald in dessen Fußstapfen treten könnte.
Die Reihe der liebenswerten und technisch brillanten Interpretinnen der Lise setzt Elisa Badenes erfreulich hochwertig fort, weil sie in allen spielerischen Belangen, egal ob sie schmollt, den Tränen nahe ist oder selig lächelt (immer noch) mädchenhafte Natürlichkeit wahrt und den so bodenständig angelegten Part schwebend leicht erscheinen lässt, so als würden z.B. die in Diagonalen über die Bühne gezogenen feinen Bourrées und Stakkati wie selbstverständlich aus ihrer Aktion erwachsen. Trotzdem war die lebhafte Spanierin schon herzhafter und im Gesamtbild glücklicher zu erleben, was sich vor allem in den Pas de deux niederschlug, wo sie sich besonders in den Hebungen nicht so optimal und strahlend präsentieren konnte, weil ihr Partner mangels Körpergröße und Führungsgeschick diese heraus gehobenen Momente nicht zu Höhepunkten führen konnte. Adhonay Soares Da Silva ist ein geradezu blendend exakter Techniker, wenn es um endlose Pirouetten in wechselnden Tempi oder klar gesetzte Sprünge geht. Er vermittelt eine Energie, als könnte er locker das doppelte Pensum abliefern, womit wir beim richtigen Stichwort sind – er erfüllt die Choreographie genau nach Vorgabe und strahlt von A bis Z durch den Handlungsverlauf, freundlich, nett, aber ohne dahinter ein pochendes Herz spürbar zu machen. Gerade Colas, der nun wirklich keinen Tiefgang verlangt und dem noch sehr jungen Brasilianer genau deshalb in seinem frühen Reifestadium entgegen kommen müsste, lebt jedoch von purer Emotion und herausragender Erscheinung. Gleich beim ersten Auftritt mit den Freunden müsste er sofort erkennbar sein – Da Silva ist es leider nicht. Da werden – so unfair der Vergleich mit Vergangenem ist – unwillkürlich Erinnerungen an wirklich fast alle seine Stuttgarter Rollenvorgänger wach.
Auch bei Mutter Simone sollte besser nicht an einstige Rollengestalter gedacht werden, doch muss Roman Novitzky bei aller fehlenden Charakterstärke zugute gehalten werden, dass er im Metier des Komischen und etwas schrägen Humors gute Figur macht, nicht outriert und hier die strenge Liebe zur Tochter in einer gut getroffenen Zwitterhaftigkeit männlicher und weiblicher Attribute zum Vorschein bringt. Den originellen Holzschuhtanz serviert er mit sichtbarem Vergnügen am Ausreizen kleiner Pointen.
Ebenso rührend wie erheiternd: Louis Stiens als Alain. Copyright: Stuttgarter Ballett
Noch besser an frühere Besetzungen anzuknüpfen vermag Louis Stiens als tölpelhafter Wunschschwiegersohn Alain durch eine sehr überlegt ausgearbeitete Rollenstudie aus Ernsthaftigkeit und unfreiwilliger Komik, die der Gewichtung des Parts, der immerhin im Mittelpunkt beider Aktschlüsse steht (zuerst das regelrechte Abheben mit seinem roten Schirm im Gewittersturm, zuletzt das Wiederfinden des vergessenen Dauerbegleiters), vollauf gerecht wird. Stiens schafft es den einfältigen Werber um Lises Hand so herüber zu bringen, dass er im selben Moment rührt wie erheitert.
Seinen Vater, den Gutsbesitzer Thomas, stellt der Eleve Fraser Roach trotz seiner Jugend unterstützt von guter Maske mit wenigen markanten Schritten und Gesten glaubwürdig auf die Bühne, mit Alessandro Giaquinto als Flötenspieler, Shaked Heller als seine Hennen stolz anführender Hahn und Christopher Kunzelmann als Notar sind die Kleinstrollen ordentlich besetzt, und das Corps de ballet strahlt in den karierten, linierten oder gepunkteten Kostümen mit Schürzen, Halstüchern und Bändern um die Wette.
Wolfgang Heinz bringt das Staatsorchester Stuttgart auf gut gelaunte Hochtour an bezaubernder Stimmungsmalerei zwischen pastoraler Idylle, Naturlauten und schmissig pfiffigen Rhythmen. Die durch Rossini- und Donizetti-Anleihen ergänzte, 1828 für die Pariser Aufführungen entstandene Musik von Louis Joseph Ferdinand Herold im Arrangement von John Lanchbery könnte zwar manchmal etwas mehr Charme statt derbem Zupacken vertragen, trägt aber zweifellos mit dazu bei, dass diese Neueinstudierung trotz der erwähnten Schwächen zur erfreulichen Wiederbegegnung wurde.
Udo Klebes