„Chelsea Hotel“ im Kammertheater Stuttgart – Ein musikalischer Abend mit Motiven aus Sam Shepards Cowboy Mouth
NOSTALGIE UND POWER
Premiere „Chelsea Hotel“ mit dem Schauspiel am 23. September 2016 im Kammerheater/STUTTGART
Copyright: Bettina Stöss
Punks trieben sich im 1883 gegründeten amerikanischen Chelsea Hotel mit Malern, Schauspielern, Opernkomponisten, Trickbetrügern und Exzentrikern herum und machten den Laden mehr als unsicher. Davon vermittelt diese fulminant-rasante Aufführung des Schauspiels Stuttgart mit den exzellenten Darstellern Manuel Harder, Marietta Meguid, Hanna Plaß, Elmar Roloff und Birgit Unterweger sehr viel. Zur Live-Musik von Max Braun, Joscha Glass und Johann Polzer sind in der bewegten Regie von Sebastien Jacobi (musikalische Leitung: Max Braun) Titel wie „Dirt“ von The Stooges, „Chelsea Girls“ von Nico, „Paris 1919“ von John Cale, „Space Clown“ von Jobriath oder „Sad Eyed Lady of the Lowlands“ von Bob Dylan zu hören.
Exzentrische Atmosphäre und surrealer Zauber wechseln sich hier auf beengtem Raum ab. Mythen, Halbwahrheiten und Gerüchte geistern unaufhaltsam herum. Dieser musikalische Abend mit Motiven aus Sam Shepards „Cowboy Mouth“ hat es in sich. Man sieht einen Astronauten, der von der Entwicklung der Menschheit und der Philosophie berichtet. Künstler und Arbeiter werden in grotesker Weise zusammengeführt. Das Hotel verwandelt sich in ein Gewächshaus. Stanley Kubrick berichtet beispielsweise im 10. Stock von seinem Drehbuch zu „2001:Odyssee im Weltraum“ – und Bob Dylan schreibt seiner Frau glühende Liebeslieder. Man erfährt, dass Leonard Cohen an diesem Ort Janis Joplin verführte. Die Liste der illustren Hotelgäste ist lang. Es geht bei diesem gelungenen Abend um die Vielstimmigkeit der Positionen. So entsteht ein fruchtbarer Dialog zwischen verschiedenen künstlerischen Standpunkten. Es gelingt den ausgezeichneten Darstellern des Schauspiels Stuttgart bei dieser überzeugenden Produktion, die verschiedenen Menschentypen höchst lebendig werden zu lassen. Der Bogen der weitgespannten Inszenierung beschränkt sich nicht nur auf die 60er Jahre. Reminiszenen an Arthur Miller und Marilyn Monroe werden wach, wenn berichtet wird, wie sich ein Schriftsteller mit einer vollbusigen Blondine streitet. In suggestiven Video-Sequenzen nimmt man viel von diesen beklemmenden Auseinandersetzungen wahr. Die Boheme dieses besonderen und merkwürdigen Hotels lässt der Regisseur Sebastien Jacobi in seiner 130jährigen Geschichte in spannender und musikalisch grandioser Weise Revue passieren. Auch weitere Gesangsnummern wie „All Tomorrows Parties“ von The Velvet Underground, „Toujour Gai“ von Joe Darion (Text) und George Kleinsinger (Musik) oder „Venus“ von Television schaffen ein eigenartiges Wir-Gefühl des „American way of life“ in seiner grotesken Form.
Marietta Meguid, Hanna Plaß. Copyright: Bettina Stöss
Das musikalische Niveau ist beachtlich. Man bemerkt schnell, wie der Hotelmanager Stanley Bard über das wilde Treiben der Spieler und Dealer wacht. Diese „Bastion des Surrealen“ wird bei dieser atemlosen Inszenierung aber auch immer wieder durchbrochen. So hört man etwa den zweiten, lyrischen Satz aus Antonin Dvoraks Sinfonie Nr. 9 e-Moll „Aus der Neuen Welt“. Dvorak gehörte ebenfalls zu den legendären Besuchern dieses amerikanischen Hotels. In diesem Augenblick kommt nachdenkliche Besinnlichkeit in die Aufführung, die ebenso erwähnt, wie die berüchtigte Warhol-Muse Edie Sedgwick ihr Hotelzimmer in Brand setzte. In mehreren Stockwerken und einem grell beleuchteten Hintergrund spielen sich immer wieder Seelendramen ab, wird die Realität ad absurdum geführt. Gerade die kreativen Menschen wissen oft nicht mehr weiter. Zwischen Installationsarbeiten und Pythonsammlungen werden Frauen in Panik versetzt – und gerade die Pseudokünstler versinken in tiefen Depressionen. Das kann der Regisseur Sebastien Jacobi sehr gut vermitteln (Bühne: Julian Marbach; Kostüme: Cinzia Fossati) . Es liegt ein melancholischer Zauber über dem Haus. Selbst der Geist des Vietnamkrieges wird geweckt. Man spürt den Staub an den Vorhängen und Teppichen, den verrosteten Rohren, dem leckenden Kühlschrank, der Klimaanlage. So nimmt man den Zerfall überall und schleichend wahr. Und gerade auch Elmar Roloff lässt den Geist der Revolutionäre der sechziger Jahre in aufwühlender Weise lebendig werden. Das Verhängnis der Selbstzerstörung lauert hier in jedem Winkel, wird jedoch durch die Musik zwischen Nostalgie und Power unterbrochen und verdrängt. Es kommt bei der Inszenierung aber nirgends zu szenischen Brüchen oder Unregelmäßigkeiten, alles wird von einem unaufhörlichen visuellen Fluss bestimmt. Mit Musik wird dabei viel über jenen Ort erzählt, an dem die Lieder entstanden. Das gelingt hervorragend. Man befindet sich zwar irgendwie im Museum, aber alles wirkt mehr als modern und lebendig. Zum Chelsea Hotel gehörte auch der Filmemacher und Musikologe Harry Smith, der hier eine Bier- und Milch-Diät machte. Die Rockband erzählt an diesem Abend immer wieder mit gestreiften Hosen, Zylinder und Gehrock von den unterschiedlichsten und verrücktesten Ereignissen. Die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen lässt Jacobi in psychologisch glaubwürdiger Weise Revue passieren. Er zitiert beispielsweise einige Passagen aus Walt Whitmans hymnischem Gedichtzyklus „Grashalme“. Whitman prägte die Geschichte des Hotels ebenfalls, wie Dvorak beschreibt er einfühlsam das Lebensgefühl der Neuen Welt. Und bei Edward Bellamys „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887“ werden die Bezüge zum Hotel noch konkreter und spürbarer. Ein junger Mann erwacht nach über hundertjährigem Schlaf. Wichtig ist dem Regisseur Sebastien Jacobi die sinnliche Wahrnehmung des Geschehens, die sich in verschiedenartigen Parallelhandlungen offenbart.
Beim Publikum kam der Abend bestens an, das Team wurde frenetisch gefeiert. Sogar ein riesiger Hummer trat plötzlich als Sänger auf.
Alexander Walther