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STUTTGART: JAKOB LENZ von Wolfgang Rihm. Unter Hochspannung

31.10.2014 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Stuttgart: „JAKOB LENZ“ von Wolfgang Rihm 30.10.2014(Pr.25.10.) –  Unter Hochspannung

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 Starke Charaktere in ungewöhnlicher Beziehung: Georg Nigl (Lenz) und Henry Waddington (Oberlin). Copyright: Bernd Uhlig

 Wolfgang Rihm hat in seiner 1978 in Hamburg uraufgeführten Kammeroper über den Sturm und Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792)  im Prinzip genau das getan, was der heute mehr durch Büchners Novelle als durch seine eigenen Werke (darunter die 1965 von B.A.Zimmermann vertonten „Soldaten“) in Erinnerung gebliebene Goethe-Zeitgenosse auf literarischer Ebene erreicht hat: im 18. Jahrhundert der Kampf gegen den in Regeln erstarrten Klassizismus, zweihundert Jahre später der Bruch mit den gleichfalls einengenden Vorgaben serieller Musik.

Die enge Verzahnung von Text und Komposition im Zeichen einer den menschlichen Nerv freilegenden Schonungslosigkeit hat sicher dazu beigetragen, dass Rihms kühnes Jugendwerk zu einem der wenigen ins Repertoire eingegangen Avantgarde-Musiktheater geworden ist. War es jedoch in Anlehnung an seine Konzeption als kammermusikalisch geprägte Arbeit bislang überall in kleineren Nebenspielstätten gespielt worden, präsentierte die Stuttgarter Oper ihre Erstaufführung des 80minütigen Opus erstmals als Hauptwerk für eine große Bühne. Ein sicher auch im Hinblick auf die zu belegende Platzkapazität mutiges Unterfangen, doch bereits diese erste Reprise nach der öffentlichkeitsträchtigen Premiere zeigte vor einem ganz gut gefüllten Zuschauerraum, dass das Risiko voll aufgegangen ist. Einen großen Teil an diesem Erfolg tragen sicher die auf einer Hauptbühne wesentlich größeren Möglichkeiten bildlicher Darstellung. Regisseurin Andrea Breth und Bühnenbildner Martin Zehetgruber haben sie voll genutzt und einen Bühnenraum geschaffen, der es in Verbindung mit einer eindringlich konzentrierten Personenführung wahrlich in sich hat: ein im Laufe der 13 lose aneinander gereihten, nur teilweise durch kurze Zwischenspiele verbundenen Bilder immer wieder verblüffende Eindrücke verschaffender, beständig von einem dünnen Gaze-Vorhang verschleiert wirkender Einheitsraum aus historischen und zeitlos modernen Elementen (auch in den Kostümen von Eva Dessecker), ergänzt durch Symbolstärke. Große Steinbrocken und dazwischen nach vorne laufende Wasser-Rinnsale markieren Lenz Gänge durchs Gebirge wie auch seine beständigen nächtlichen Bäder im Brunnen vor dem Haus des Pfarrers Oberlin, der den Flüchtigen und zusehends von Schizophrenie gezeichneten Dichter auf Empfehlung des gemeinsamen Freundes, des Literaten Kaufmann, bei sich im Steintal in den Vogesen aufnimmt.

Die Innenraum-Szenen gleichen mit ihrer teils grellen Neonbeleuchtung und einem nackten Bettgestell dem Behandlungszimmer eines Arztes. Doch weder der sozial eingestellte Pfarrer noch der pragmatische Literat vermögen trotz aller Bemühungen, den von Wahnsinnsanfällen gezeichneten Lenz aufzufangen. Traumatisiert durch den Tod eines kleinen Mädchens, dessen vergebliche Wiedererweckung er als Verstoßung von Gott betrachtet und das auch in Breths Inszenierung in Erscheinung tritt, wird er von inneren Stimmen verfolgt und gepeinigt. Sechs Solisten, z.T, aus dem Opernstudio, geben ihnen in zischender, flüsternder oder einfach nur vokalisierender Weise beklemmenden Ausdruck. Wie Wellen nähern und entfernen sie sich und sind ein Beispiel, wie dicht Rihm musikalische Expressivität auf den Punkt brachte. Eine physische Präsenz dieser Stimmen wäre da gar nicht nötig gewesen. Zur Ausdrucks-Quelle des Komponisten gehören des weiteren rhythmische Paukenschläge, die die mal hastigen, mal verlangsamten Schritte von Lenz markieren; tiefe Streicher (3 Celli) legen einen psychischen Teppich, immer wieder überlagert von sich zuspitzenden Bläser-Clustern. Ein 11köpfiges Ensemble aus dem Staatsorchester Stuttgart, ergänzt vom Choral- und tänzerische Anklänge aufgreifenden Cembalo, leistet unter der dringlichen Leitung des Spezialisten für die Moderne, Franck Ollu, Außerordentliches, ist durchgängig ganz nah am Puls der Bühne, und schafft es auch mit verstörenden Klängen für ergriffene Spannung zu sorgen.

Das stückgemäße Zentrum bildet der seit diesem Semester an der Stuttgarter Musikhochschule lehrende Wiener Bariton Georg Nigl. Sein Bekenntnis zu ungewöhnlichen Projekten abseits des gängigen Verständnisses eines Operninterpreten schlägt sich in einer außergewöhnlichen Intensität stimmdarstellerischen Einsatzes nieder. Schonungslos vertieft er sich in die Lage des psychisch kranken Mannes, windet sich am Boden, in einem engen Regal, hangelt über Steine, suhlt im Wasser und beschmiert sich zuletzt noch mit Dreck. Wie ein Spiegel seines Inneren gleitet seine markante Stimme von der Brust- in die Kopfstimme und zurück, bedient sich des Stammelns, Stöhnens und Schreiens und erweckt dabei den Eindruck, als wäre es die einfachste und normalste Sache der Welt. Ein grandioses, beängstigend echtes Rollenportrait!

Die beiden Mitstreiter punkten mit kaum weniger präsenten und vokal nachdrücklichen Leistungen: Henry Waddington als Oberlin mit prononciertem Bass und John Graham Hall als Kaufmann mit eindringlichem Charaktertenor.

Zuletzt geben die beiden Männer auf und lassen den in eine Zwangsjacke gesteckten und nur noch „konsequent“ verlautbarenden Lenz auf seinem Bett zurück. So offen wie die gesamte Form ist das Ende, obwohl bis dahin ein qualvolles Ende in der Psychatrie vorgezeichnet war.

Nicht nur Wolfgang Rihm dürfte sein populärstes Werk hier noch einmal ganz neu entdeckt haben, auch die noch folgenden Zuschauer in Stuttgart und der beiden noch folgenden koproduzierenden Bühnen, La Monnaie in Brüssel und die Staatsoper Berlin, werden bestimmt so nachhaltig begeistert reagieren wie an diesem Abend.                          

Udo Klebes

 

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