Stuttgart
„I PURITANI“ 8.7. 2016 (Premiere) – ein Belcanto-Fest zwischen Historie und Gegenwart
Elvira mit schwebend leichter Koloratur und Spitzenstrahlkraft: Ana Durlovski. Copyright: A.T.Schaefer
Die Hoffnung, dass sich Stuttgarts leitendes Team Jossi Wieler und Sergio Morabito nach „Norma“ und „Sonnambula“ eine weitere Bellini-Oper vornimmt, wurde nun zum Ende der Spielzeit erfüllt. Ihre Inszenierung des teilweise geschichts-verbürgten Spätwerks des sizilianischen Komponisten zeigte indes nicht die gleiche glückliche Hand, mit der vor ein paar Jahren die Episode der nachtwandelnden Amina umgesetzt wurde. Dafür gab es ein Sängerfest höchsten Formats zu feiern, das so manche Regie-Ausuferung zuzudecken oder zumindest abzumildern vermochte.
Belcanto mit tenoralem Format Edgardo Rocha als Arturo (mit Ana Durlovski – im Haus). Copyright: A.T.Schaefer
Zum ersten Mal war an einem Abend die komplette Musik zu hören, die Bellini für die Uraufführung in Paris 1835 geschrieben hatte. Und das machte sich bei der gebotenen musikalischen Qualität durchweg bezahlt, so dass die etwas mehr als drei Stunden Spieldauer auch trotz sämtlicher Wiederholungs-Abschnitte zu keinem Zeitpunkt bewusst wurden. Allein diese Ambition, Bellinis ursprüngliche Intention lange nach seinem Tod endlich umzusetzen, verdient hohen Respekt. Dass von den vier anspruchsvollen Hauptpartien drei aus dem Ensemble besetzt werden konnten, stellt diesem ein hervor ragendes Zeugnis aus. Weil es dazu gelang noch einen Gast zu verpflichten, der die gefürchtet hoch notierte Rolle des Arturo Talbot als wahren Genuss edler tenoraler Attribute zum Erlebnis machte, sei ihm der Vortritt gewährt. Edgardo Rocha heißt der aus Uruguay stammende, innerhalb weniger Jahre zu einem international gefragten Belcanto-Interpreten aufgestiegene Tenor, der sich nach einem Repertoire-Gastspiel als Don Ramiro in Rossinis „La Cenerentola“ nun auch in einer Premiere vorstellte. Seine ganz klar ansprechende, für Bellinis Kantilenen nie zu schmale, aber auch nie zu fette Stimme legte im Laufe der Aufführung immer weiter an Strahlkraft und inniger Phrasierung zu, formulierte seine mit einigen exorbitanten Höhenaufschwüngen verbundenen Liebesbezeugungen stets ruhig in einer Linie, und wölbte sich in den Spitzen leuchtend rund über die Ensembles. Dazu hin gelang es ihm, den etwas zwiespältigen Charakter, der seine Braut vor der Hochzeit ohne Information verlässt, um aus Dankbarkeit die Staatsgefangene Königin Henrietta I. vor der Hinrichtung zu retten, als durchaus sympathischen Royalisten darzustellen. Warum er allerdings nach dieser Flucht, erblindet wieder zurück kehrt, kann die Inszenierung nicht erklären.
Mit der zentralen Rolle der Elvira, die aus ihrem unerwartet gestatteten Bund mit dem gegnerischen Arturo nach dessen Flucht in den Wahnsinn abtreibt und erst am Ende nach dessen Rückkehr und Begnadigung wieder in der Realität ankommt, hat sich Ana Durlovski ein weiteres Belcanto-Portrait erarbeitet, dessen exquisit ausgearbeitete und ihre Vorzüge hervor kehrende vokale Anlage von hoher Individualität und geschmacklicher Verve geprägt ist. Mit langbogigen Halte- und Schwelltönen, abrupten, aber immer ins Ganze eingebundenen Acuti sowie ihrem markant und koloraturspielerisch beherrschten Spitzenregister reiht sie sich würdevoll in die Reihe bedeutender Primadonnen der Geschichte. Warum sie sich auffallend oft am Boden wälzen muss und sich auf dem Höhepunkt ihres Wahns in einem Mauerverschlag versteckt, gehört zu den Absonderlichkeiten der Regie. Den Schwebezustand der labilen Frau erreicht sie dabei ohne absonderliche mimische Übertreibungen.
Den ihr zuerst zugedachten Bräutigam Riccardo Forth zeichnet Gezim Myshketa mit emotionaler Intensität zwischen Haltlosigkeit und der Neigung zur Unbeherrschtheit, die unnötigerweise in einer Vergewaltigung Elviras am Ende des ersten Aktes gipfelt, weil zu diesem Zeitpunkt wieder die Hoffnung auf ihre Hand besteht und diese Szene auch rein musikalisch genug Grand Opéra-Dramatik bietet. Der technisch flexible Bariton vermag dabei zwischen fast larmoyanten Phasen und gebührendem Auftrumpfen einen organischen Faden zu legen und unterstützt von seinem männlich charaktervollen Timbre allen Anforderungen gerecht zu werden. Mit viel Gefühl und spielerischer Lockerheit gestaltet Adam Palka Elviras Seelentröster Onkel Giorgio, und das was der polnische Bass mit dem Samttimbre und seiner durch alle Register agilen und gefestigten Stimme in edler Phrasierung und mit weichem Legato verströmt ist selbst dann noch Balsam, wenn er wie im patriotischen und melodisch unwiderstehlichen „Suoni la tromba“-Duett mit Riccardo so richtig aufdreht.
Mit ihrem hellen und immer mehr Substanz gewinnenden Mezzosopran wertet Diana Haller, auch bedingt durch ein bislang nie gehörtes Terzett, die wichtige Position der gefangenen Königin Enrichetta, die sich anfangs an historische Gemälde ihres hingerichteten Gatten klammert und dabei von den Puritanern attackiert wird, erheblich auf. Roland Bracht vermag Elviras Vater Lord Walton in der Kürze seines Auftritts durch seinen seriös markanten Bass und seine Präsenz ebenso bestens zur Geltung kommen zu lassen wie Heinz Göhrig Sir Bruno, den Befehlshaber der Soldaten, mit eindringlich gerundetem Tenor und potenter Darstellung.
Als titelgebendes Ensemble der Puritaner oblag dem Staatsopernchor Stuttgart (bestens vorbereitet von Johannes Knecht) die das Geschehen maßgeblich bestimmende Aufgabe. Dass die in gewohnter Qualität (hervorstechend die Strahlkraft der Herren) ihre Vokalkünste präsentierenden Damen und Herren auch das Schauspiel in adäquater Qualität beherrschen, ist zur Genüge bekannt. Statt lauter hervorstechender Einzeltypen (wie in der schon erwähnten „Sonnambula“) setzte das Regie-Team diesmal auf Gruppenbeschäftigung, und so dürfen die Puritaner durchaus nachvollziehbar immer wieder ihre Gebetbücher oder Bibeln in die Höhe strecken oder sich in synchronen choreographisch zeichenhaften Ritualen als Zeichen ihres Gefangenseins in ihrer Religion ergehen. Die „Reinigung“ von ihren Gegnern im zweiten Akt in Form von tatsächlichem Boden- und Wändescheuern überspannt jedoch wie noch manch anderes Detail den Bogen der sprichwörtlichen Umsetzung.
Keine Mätzchen bestimmten die instrumentale Grundlage der Aufführung: Giuliano Carella hat (anstelle des ursprünglich vorgesehenen Gabriele Ferro) mit dem klanglich süffigen Staatsorchester Stuttgart Bellini in Reinkultur erarbeitet: leicht und luftig in den Streicherkantilenen, erlesen stimmungsvoll in den Holzbläsern und mit warmem Glanz im wirkungsvoll eingesetzten Blech, zumal im parallel solistisch von Trompete und Horn flankierten patriotischen Duetts am Ende des zweiten Aktes. Die Leichtigkeit wellenartiger Melodiebewegungen wurde von den Musikern ebenso eingefangen wie die weit in die Romantik hinein weisenden Naturelemente (Sonnenaufgang, Sturm) und gesteigerten dramatischen Tableaux. Das Himmlische hatte dabei ebenso breiten Raum wie das dadurch umso mehr seine Wirkung entfaltende energiegeladene Voranpreschen erhitzter Gemüter.
Ein künstliches, fast dauerhaft brennendes Neonröhren-Deckenlicht verhinderte solche Atmosphären auf der Bühne weitgehend. Ansonsten weist Anna Viebrocks Bühnenraum mit altem Mauerwerk und Spitzbogennische sowie phasenweise sichtbar werdendem anglikanischem Kirchenraum mit von Säulen gestützter Empore erfreulich viel Beziehung zum Stück auf. Noch dem Sujet näher sind die puritanischer Strenge nachempfundenen Kostüme (die Damen mit Hauben) sowie einem pompösen Aufputz mit Gamaschen und Stiefeletten sowie Hut für Arturos Aufmasch.
Warum sich das handwerklich gute Regie-Team neben durchaus sinnvollen zwischenmenschlichen Beobachtungen immer wieder zu unverständlichen Aktionen (das Duell zwischen Arturo und Riccardo mit Degen und Beil!, viel am Boden Herumgezerre, die von einem kleinen Mädchen in Elviras Kleid in von oben verteilten Flugblättern bekannt gemachte Begnadigung durch Cromwell ) hinreißen lässt, bleibt als Frage über einem musikalisch zweifellos einhelligen Belcanto-Fest hängen.
Das Premieren-Publikum nahm es erstaunlich gelassen hin und reihte die Verantwortlichen der Szene durchweg positiv in den anhaltenden Jubel ein.
Udo Klebes