Der Gefangene: John Graham-Hall, Georg Nigl. Copyright. Bernd Uhlig
Stuttgart
„DER GEFANGENE“ (Dallapiccola) / „DAS GEHEGE“(Rihm): 26. 4. 2018 (Premiere) – Ambivalente Häftling-Wärter-Beziehungen
Erstmals wurden jetzt in einer Gemeinschafts-Produktion mit dem Brüsseler Theatre de la Monnaie, wo die Premiere bereits im Januar stattgefunden hatte, die beiden inhaltliche Parallelen aufweisenden Einakter aus der Feder zweier aus verschiedenen Generationen stammenden Komponisten zu einem Abend kombiniert.
Bemerkenswert ist zunächst, dass die 1949 entstandene Musik Luigi Dallapiccolas einen nicht weniger modernen, sprich nicht weniger atonalen Eindruck hinterlässt als Wolfgang Rihms 2005 geschaffener Monolog. Das im italienischen Original einstudierte und einst am meisten verbreitete zeitgenössische Opernwerk des gläubigen Katholiken Dallapiccola bezieht seinen Reiz jedoch aus dem Zusammenschweißen von Zwölftonreihen mit der immer wieder in lyrischen Inseln durchschimmernden Operntradition seines Landes. Rihm wiederum türmt radikale Klangflächen und Blöcke als Basis eines expressiven, teils rhythmisch geprägten Sprechgesanges auf einander, der zwischen der Sprunghaftigkeit eines Arnold Schönberg und der Tonalität eines Richard Strauss für beständige Spannung sorgt. Nicht ungefähr wurde dieses Stück bei seiner Uraufführung in München mit „Salome“ gekoppelt, und nicht von ungefähr hat Botho Strauss, aus dessen „Schlusschor“ Rihm den Text wortwörtlich übernommen hat, bei der Anlage und Thematik dieses Textes an Schönbergs Monodrama „Erwartung“ gedacht. Dort verirrt sich eine Frau in einem Wald, der hier in mehrfacher Wiederholung als Symbol der Freiheit das letzte Wort einer Frau ist, die nachts in einen Zoo eindringt, um einen Adler aus seinem Gehege zu befreien, ihn aber getrieben von Angst und erotischer Anziehung zugleich provoziert. Seinen altersschwachen Angriff kontert die Frau mit der Massakrierung durch ein Messer, mit dem sie zuvor noch den Maschendraht zerschnitten hat.
Konkreter ist die Handlung des „Gefangenen“, der auf der noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Erzählung „Folter durch Hoffnung“ des Grafen von Villiers de L’Isle-Adam fußt, auch wenn Dallapiccola auf die jüdische Herkunft der Titelpartie verzichtete und sie zu einem Freiheitskämpfer des vom spanischen Monarchen Philipp II. besetzten Flandern umfunktionierte, damit aber auch die Bedeutung der Freiheit ins Vielseitige abstrahierte. Denn letztlich geht es um die Ohmacht des Individuums gegenüber staatlich/kirchlicher Vernichtung. Der Gefangene erfährt seine letzte Folter paradoxerweise aus der vom Gefängniswärter mit der Ansprache „Bruder“ genährten Hoffnung auf Befreiung, begreift jedoch auf dem Weg durch einen Gang in den Garten, dass der angebliche Weg in die Freiheit genau in die Hände des Großinquisitors führt, der die Züge des Wärters trägt.
Martin Zehetgruber hat dafür einen zunächst ganz im Dunkel gehaltenen, von einer Betonwand verschlossenen Raum mit einer Gitterzelle geschaffen, die sich später im Raum in verschiedenen Höhepositionen vervielfacht. Eine senkrecht nach Oben ins Unsichtbare führende Leiter wird am Ende durch einen strahlenden Lichtschein erhellt, mit den letzten Takten der Musik aber wieder ins Dunkel getaucht. Eine einfache und doch so starke Metapher für den Trugschluss der Freiheit.
„Das Gehege“. Angelas Blancas-Gulin, Georg Nigl. Copyright: Bernd Uhlig
Bei Rihm erstreckt sich über die ganze Bühnenbreite eine in kleine Zellen unterteilte Draht-Voliere, die immer wieder für einige Sekunden ins Blitzlicht getaucht wird und die Bewegungen im Zeitraffer sichtbar macht. So schwarz und grau wie die Bühne sind weitgehend auch die zeitlosen Kostüme von Nina von Mechow. In diesem bedrückenden Rahmen hat Andrea Breth mit geradezu greifbarer Spannung Regie geführt und die ohnehin explizit ausgesuchten Sängerdarsteller zu sich fast beängstigend mit ihren Partien identifizierenden Charakteren geformt. So genau sie den szenischen Anweisungen der Textbücher im Großen und Ganzen gefolgt ist, fragt sich jedoch, warum der Adler gleich fünffach in Aktion ist, denn aus der szenischen Situation heraus ergibt sich kein Bezug. Doch bleibt das ob der teils atemberaubenden Verdichtung von Musik und Szene letztlich marginal.
Die bannende Szene wurde von einer musikalischen Dichte und Spannung erfüllt, für die das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Franck Ollu, der bereits 2014 die letzte Rihm-Einstudierung „Jakob Lenz“ besorgt hatte, die faszinierende Basis legte. Ollu gewährte mit äußerster Bemühung um eine klare Strukturierung des großen Apparates für eine Transparenz, die eine optimale Präsenz der Sänger-Einsätze ermöglichte. Grelle Bläserakkorde wie auch sanft schillernde Streichergewebe bei Dallapiccola waren klar heraus gearbeitet, die Flügelschläge des Adlers nachzeichnende Windmaschine bei Rihm nachdrücklich in den dramatischen Impuls eingebettet.
Im vokalen Mittelpunkt steht Angeles Blancas Gulin, die sich von einer Belcanto-Interpretin inzwischen ins Zwischenfach und in moderne Dramatik vorgearbeitet hat und sowohl als Mutter des Gefangenen wie als Frau im „Gehege“ eine bewundernswerte Symbiose aus textlicher Gestaltung und stimmlicher Offenbarung erreicht. Als Mutter schafft sie es in der Eingangsszene, wo nur ihr Kopf aus der Dunkelheit angestrahlt wird, mit ihrem Trauma aus Furcht und Vision zu fesseln; als Kontrahentin des Adlers ist ihr Blick meist frontal ins Publikum gerichtet oder sie klammert sich über dem Boden in den Maschen des Drahtzauns fest und lotet die expressionistisch bildlichen Vergleiche des Botho Strauß-Textes (vergleichbar mit Wildes „Salome“) mit mühelosen Übergängen von brustiger Tiefe bis in die gewaltigen Sprünge in extreme Höhen aus. Selbst in den Spitzen bleibt ihr Sopran so flexibel, dass er mal einen ganz geraden und grellen Charakter, dann einen runderen und volleren Klang bekommt.
Georg Nigl hatte bereits als Jakob Lenz durch seine verzehrende Intensität und als Widersacher in „Tod in Venedig“ durch seine Wandlungsfähigkeit schwer beeindruckt. Das gelingt ihm auch jetzt als ganz nach innen gerichtetem Gefangenen, wie in einer eigenen Welt lebend, kehrt er das Innerste nach Außen und unterwirft seinen prägnanten und beweglichen Bariton allen Erfordernissen von zögerlich gebrochenen Phasen bis hin zu expressiven Verlautbarungen. Selbst wenn er später noch im Hauptpart des Adlers mit passender Vogelkopf-Maske zur Stummheit auferlegt ist, wird seine körperlich interpretatorische Präsenz spürbar.
John Graham-Hall zeichnet den Wärter bzw. Großinquisitor mit eindringlichem Charaktertenor, der auch in einigen Falsett-Passagen seinen Kern bewahrt. Später übernimmt er ebenso wie die beiden Priester Julian Hubbard und Guillaume Antoine eine der zusätzlichen Adler-Figuren. Die aus dem Off dringenden lateinischen Gesänge im „Gefangenen“ wurden mit Herren des Staatsopernchors zugespielt.
Ein anregendes, mal unmittelbar berührendes, mal auch etwas verstörendes, aber ohne Unterlass fesselndes Beispiel zeitlosen Musiktheaters wurde mit vielen Vorhängen und ungetrübten Ovationen für alle Beteiligten verdient gefeiert.
Udo Klebes