Stuttgart: „DANCER IN THE DARK“ 28.11.2012 (Premiere) – Tanz ins Unterbewusstsein
Selmas an seidenen Fäden hängende Welt: Ute Hannig mit Corps de ballet. Copyright: Ulrich Beuttenmüller
Der gleichnamige mehrfach preisgekrönte Film von Lars von Trier aus dem Jahr 2000 in Henning Borcherts deutscher Übersetzung der Bühnenversion von Patrick Ellsworth diente als Grundlage für diese Koproduktion des Stuttgarter Balletts mit dem Staatsschauspiel in dessen derzeit sanierungsbedingter Ausweichspielstätte, der Bühne Nord. Nur dass die bessere Welt, in die sich die Hauptrollendarstellerin Selma flüchtet, nicht die des Gesangs, sondern die des Tanzes ist.
In den USA der 60er Jahre zerbricht die tschechoslowakische Einwanderin Selma an dem Versuch, dem Schicksal der auch ihrem Sohn Gene drohenden Erblindung zu entgehen, indem sie sich für dessen mögliche Rettung durch eine Operation so weit aufopfert, dass sie unfreiwillig zur Mörderin wird und einen letzten Versuch, das Ersparte für eine mögliche Entlastung zu verwenden, entschieden ablehnt. Lieber will sie als Märtyrerin sterben und ihrem Sohn eine sehende Zukunft ermöglichen. Alle Einwände seitens der Freunde, dass ihr Kind seine Mutter letztlich nötiger braucht als das Augenlicht, schlägt sie aus. Als eine Art weibliche Christusfigur wurde sie in der Wertung des Films damals bezeichnet. So weit muss aber nicht gegangen werden, um die Größe von Selmas Lebenseinstellung und Haltung zu begrüßen. Und das hat Regisseur Christian Brey und die Choreographen Marco Goecke und Louis Stiens (letzterer hat das Konzept des zwischendurch erkrankten Goecke aufgegriffen und weiter geführt) auch gar nicht interessiert. Ihnen ging es auch nicht um die Darstellung der beiden Welten Selmas, mehr um eine Erweiterung ihrer Wahrnehmung durch tänzerisches Vokabular. Natürlich ist da die Realität ihrer Arbeit in einer Maschinenfabrik, um Geld für ihren Sohn zu verdienen. Die Flucht ins geliebte Musical, wo sie nicht nur als Zuschauerin, sondern auch als Hobby-Darstellerin abheben, die Härte des Alltags und in ihrer Phantasie Grenzen überwinden kann, existiert jedoch nur auf der musikalischen Ebene, wo Matthias Klein eine Collage aus diversen alten US-Musicals von einer zerkratzten Platte und verschiedenen (Alltags-)Geräuschen eingerichtet hat. Die Traumwelt Selmas hat in diesem Konzept auf der dunkel steril gehaltenen Bühne keinen Platz. Ein spiegelnder Boden suggeriert Haltlosigkeit, quer über die Bühne und bis zum Schluss immer weiter herab hängende Seile, deren Enden genauso gut Mikrofone als auch Vorhang-Kordeln sein können, symbolisieren ebenso die ersehnte Welt des Theaters und die unentrinnbare Welt Selmas, sorgen aber auch für faszinierende Lichtstimmungen (Udo Haberland), wenn Schatten durch und über dieses Geflecht huschen. Anette Hachmann und Elisa Limberg zeichnen auch für die zeitgerechten US-Kostüme verantwortlich.
In diesem Einheitsraum wirken die Darsteller mehr arrangiert und hineingestellt als eigenständig aktiv, wodurch andererseits die Konzentration auf die gesprochenen Texte, die immerhin etwa zwei Drittel der Aufführung ausmachen, begünstigt wird. Deren Vortrag gerät leider künstlich, wenig real, so als ob wir ihn aus Selmas eingedunkelter Position wahrnehmen. Im ersten Teil ist es befremdend, erst nach der Pause während Selmas Untersuchungshaft werden die hallend aus dem Off verstärkten Stimmen von Staatsanwalt und Verteidiger, aber auch der besuchenden Freunde zum beklemmenden Widerhall von Selmas Innerem. Da lenkt dann nichts mehr von Ute Hannigs konsequent und unerbittlich, mehr bodenständig als träumerisch abgehoben durchgezogener Gestaltungs-Intensität ab. Ihre Mitmenschen, Jonas Fürstenau als ihr zum Verhängnis werdender Nachbar Bill (ausgerechnet ein Polizist hat ihr das Ersparte gestohlen), Lilly Marie Tschörtner als dessen verwöhnt dumme Frau Linda, Dorothea Arnold als ihre bis zuletzt für sie kämpfende Freundin Kathy und Markus Lerch als ihr zugetaner Jeff in den Hauptrollen, bleiben seltsam leblos, phasenweise unbeteiligt. Die Mordszene, in der sich im Kampf zwischen Selma und Bill ein Schuss aus dessen Dienstwaffe löst und ihn schwer verletzt, worauf er sie flehentlich bittet, ihm den Rest zu geben, gerät dagegen zu realistisch und kippt durch zu langes Auswalzen der Tat vom anfänglichen Schockzustand in lächerliche Comedy. Auch das anfängliche Auf- und Abblenden einer bühnenumrandenden Scheinwerfer-Montur, so dass die Personen nur in kurzen Lichtblitzen sichtbar werden, ist zu lange ausgereizt, zumal der Zuschauer sofort begriffen hat, dass hier Selmas optisch eingeschränkte Wahrnehmung gemeint ist. Fesselung und Berührung stellt sich vor allem dort ein, wo der Tanz die Initiative ergreift, sich das 19köpfige Corps zu teils mechanischen Rhythmen zwischen die Schauspieler mischt, Rachele Buriassi und Roland Havlica einen berückend innigen Pas de deux als Utopie einer möglichen Liebe zwischen Selma und Jeff entwerfen, der schmächtige Cranko-Schul-Absolvent Alessandro Giaquinto dem Insichgekehrtsein und der Scheu des stumm gehaltenen Sohnes Gene erschütternden Ausdruck verleiht oder Angelina Zuccarini als Alter Ego Selmas deren Hoffnungen, Zweifel, Vorwürfe und Ängste in fließenden oder stockend nervösen Schrittformen und Körperwindungen unaufgesetzt und in sich ruhend veranschaulicht. Bei der Hinrichtung ist dieser Schatten sogar noch eine Hilfe, indem er Selma von hinten sanft umklammert, um sie ruhig zu halten.
Die kleinteilig flatternden Passagen, die Marco Goecke und die ausgreifenderen, die dem erst 21jährigen Louis Stiens zuzuschreiben sind, sagen überhaupt oft so viel mehr als die in kurzen Sätzen gehaltenen und teilweise mit unnötigen Kunstpausen gesprochenen Dialoge, so dass es tragender gewesen wäre, diese letzten Momente vor dem Tod dem Tanz zu überlassen, anstatt die Freundin Kathy Selma noch ein „Hör auf Dein Herz“ zuzurufen. Oder das Stück besser ganz in die Hände eines Choreographen zu legen.
Udo Klebes