ST. PETERSBURG/ MARIINSKY-THEATER: Le Nozze di Figaro – 24.11.2013
Für den häufigen Besucher von St. Petersburg nicht zu übersehen, steckt das ehrwürdige Mariinsky-Theater in einem Umbruch. Verantwortlich dafür ist die am 2. Mai mit großem Pomp erfolgte Eröffnung der neuen Bühne, die dem Haus nunmehr drei Spielstätten beschert: das historische Mariinsky Theater (genannt Mariinsky I), die neue Bühne (Mariinsky II) sowie die Konzerthalle (Mariinsky III), die ebenfalls für konzertante, aber auch halb- oder vollszenische Opernaufführungen genutzt wird. Es ist nicht selten, dass an einem Tag vier oder mehr Aufführungen gegeben werden. Dies bedeutet, dass diese Vielzahl an Vorstellungen allein mit dem bisherigen Personal nicht zu bestreiten sind. Nicht nur ist das Orchester enorm aufgestockt worden; es fällt auch auf, dass am Mariinsky mehr als zuvor in den vergangenen Jahren Sänger aus den ehemaligen Sowjetrepubliken auftreten, die ihren Weg am Mariinsky vorbei in den Westen gefunden haben, u.a. die Soprane Tatjana Serjan, Ludmila Monastyrska, Oxana Dyka und die Tenöre Alexander Antonenko, Dmitry Popov, Vsevolod Grivnov.
Bislang konnte man sich darauf verlassen, dass sich der Mariinsky-Nachwuchs aus der von Valery Gergievs Schwester Larissa Gergieva geleiteten Akademie rekrutiert (immerhin stammen über 50 % des Ensembles aus dieser Institution), doch seitdem diese das Opernhaus von Vladikavkas leitet und in St. Petersburg weniger präsent ist, scheint die Akademie an Anziehungskraft verloren zu haben, so dass so manche Absolventin des St. Petersburger Rimsky-Korsakow-Konservatoriums es vorzieht, an die Akademie des Bolshoi-Theaters statt in die Newa-Metropole zu gehen. Die aufstrebende Sopranistin Venera Gimadieva ist das beste Beispiel für diese Entscheidung.
Dass das Mariinsky-Theater aber selbst in einem Bereich, das eigentlich nicht als seine Domäne gilt, Hervorragendes zu leisten imstande ist, davon konnte sich der Besucher einer Repertoirevorstellung von Mozarts „Nozze di Figaro“ überzeugen. Das Mariinsky leistet sich den Luxus, zwei Inszenierungen dieser Oper im Repertoire zu haben: in italienischer Sprache im historischen Theater sowie in russischer Sprache in der Konzerthalle. Eine der Attraktionen dieser Matinee (in Mariinsky I) war das Dirigat von NIKOLAJ ZNAIDER, einem der heute profiliertesten Geiger, der sich jedoch schon seit einigen Jahren auch dem Dirigieren widmet – er ist Erster Gastdirigent des Mariinsky-Theaters, ein Titel, mit dem offenbar die Hoffnung auf vermehrte Auftritte verbunden ist, jedoch nicht die „Ehre“, Proben für diese Aufführung bekommen zu haben bzw. das Orchester in seiner besten Besetzung dirigieren zu dürfen. Von meinem Platz aus nahe der Bühne konnte ich Znaiders Dirigat sehr gut beobachten, und es war eine Freude, ihm dabei zuzusehen, wie gekonnt er Bühne und Graben zusammenhielt, sehr sangbare Tempi wählte und mit den Sängern zu atmen schien. Hier wächst ein großer Dirigent heran!
Das Mariinsky war bisher nicht für ein Mozart-Ensemble bekannt, doch die Sänger dieser Aufführung, vor allem Susanna, Cherubino und den Grafen, könnte ich mir an jedem Opernhaus der Welt vorstellen. In einer Zeit, in der die Gräfin häufig mit einer Susanna-Stimme besetzt ist, diese Partie dagegen mit einer Barbarina, fühlte ich mich in die „guten alten Zeiten“ versetzt, als die Balance zwischen den einzelnen Sopranstimmen noch wohl ausgewogen war. TATYANA PAVLOVSKAYA (Contessa) hat nicht zu überhören an einer ruhigen Linienführung gearbeitet und somit das sonst immer ein wenig störende Vibrato verringert, das ihr Timbre zwar reizvoll erscheinen ließ, doch auch auf Technikprobleme schließen ließ. Diese scheinen ANASTASIA KALAGINA (Susanna) unbekannt zu sein. Was auch immer sie mit ihren Stimmbändern anfasst, wird zu Gold. Eine Sängerin auf die das Mariinsky-Theater stolz sein kann, da die Künstlerin so schlau ist, bisher im Fach des lyrischen Soprans zu verbleiben und Versuchungen, das Fach zu erweitern, zu widerstehen. Ein wahres Juwel, wie es auch die junge IRINA SHISHKOVA (Cherubino) werden könnte. Seitdem diese Sängerin gelernt hat, dass es für eine lange Karriere förderlich ist, mit schlankem Stimmansatz Mezzosopran-Partien zu singen anstatt für Alt-Partien die Stimme künstlich herabzudrücken, kann man sich der Schönheit dieses edlen Materials ungehindert hingeben. Mit ihr und der Kollegin Ekaterina Sergeyeva im Ensemble, braucht man sich um die Zukunft im Mezzosopran-Fach am Mariinsky-Theater keine Sorgen zu machen. KIRA LOGINOVA war eine Barbarina, deren runder Stimme ich auch eine Susanna zutrauen würde, und ELENA SOMMER war eine Marcellina mit einem Material „im besten Saft“ und köstlichem Spieltalent.
Nikolaj Znaider nach der Aufführung mit Irina Shishkova (Foto: Manninen)
Es gibt nicht nur Juwelen im Damenensemble. Bei den Männern würde ich dem Bariton ANDREY BONDARENKO eine große Karriere zutrauen. Dieser junge Mann (noch keine 30 Jahre alt) sang vor 7 Jahren bei einem russischen Gesangswettbewerb u.a. mit „Nemico della patria“ und Schuberts „Atlas“ für seinen Kavaliersbariton (zu) Dramatisches und wurde vom Mariinsky daraufhin vorsichtig aufgebaut, angefangen mit dem Papageno bis nun zum Figaro-Grafen. Beim vorletzten Cardiff-Wettbewerb gewann Bondarenko den Liedpreis, in Köln trat er kürzlich als Onegin auf. Ein weich und warm timbrierter Bariton, der in keiner Lage Grenzen zu kennen schien und dazu als großes Spieltalent besitzt. EDUARD TSANGA (Figaro) fing gut an und kostete mit seinem Bassbariton genüsslich die Höhen seiner Arien aus, wurde aber im Verlaufe des Abends unüberhörbar müde – verständlich, denn er hatte am Vorabend noch Papageno gesungen. MIKHAIL KOLELISHVILI war ein erster Bass im zweiten Fach (Bartolo), während ANDREI ZORIN (Basilio) ein wenig zu sehr überzog. NIKOLAI GASSIEV (Curzio) und ALEXANDER GERASIMOV (Antonio) komplettierten gekonnt. Fazit: Das Mariinsky-Theater ist auch in diesem ungewohnten Repertoire eine Reise wert, und das auch, wenn der Hausherr (Valery Gergiev gastierte in Warschau zu Pendereckis Geburtstagsfeierlichkeiten) nicht zu Hause. Bei einem Dirigenten wie Nikolaj Znaider war jedenfalls nicht zu bemerken, dass „die Mäuse auf dem Tisch tanzten“.
Sune Manninen