Mariinsky-Theater / St. Petersburg: Il Trovatore (5.5.2013)
Musikenthusiasten, die nicht nur St. Petersburg, sondern auch das Mariinsky-Theater besuchen wollen, haben im Moment schlechte Karten. Dass ein aus dem Ausland anreisender Besucher gerne im Vorhinein wissen möchte, was gespielt wird, evtl. auch in welcher Besetzung, scheint am Mariinsky immer noch und zur Zeit verstärkt zu den zu vernachlässigenden Petitessen zu gehören. Man verlässt sich gerne darauf, dass für den Gast aus dem Ausland ein Besuch im renommierten Theater ein Muss ist, egal, was gespielt wird. Hauptsache, der Vorgang geht hoch!
Die Vorbereitung auf die Vorstellung, für die der Gast, sofern er Nicht-Russe ist, viel Geld hinblättern muss, geschieht immer noch in einer Art und Weise, die man zumindest im mitteleuropäischen Ausland nur als reichlich chaotisch bezeichnen kann; hier wird sie als eher flexibel eingeschätzt. Selbst wenige Stunden vor dem abendlichen „Trovatore“ im neuen Mariinsky II nannte die Homepage des Theaters keinen Dirigenten. Als ich am Abend zuvor zufällig einen der Haus-Dirigenten fragte, wer denn dirigieren würde, war seine lakonische Antwort „May be me!“ Aber mit Ausnahme des Di Luna-Sängers habe er die Solisten noch nicht gesehen!!!
Das A-Orchester war noch unmittelbar nach dem gestrigen „Nabucco“ mit Valery Gergiev zu dessen Moskauer Oster-Festival aufgebrochen. Für die zu Hause gebliebenen Musiker gab es an diesem Tage gleich 4 Vorstellungen: um 11.30 Uhr im alten Haus das Ballett „Don Quixote“, um 12 Uhr in der Konzerthalle ein Jugend-Konzert unter dem Titel „The orchestra comes on stage“, um 18 Uhr Glinkas reichlich lange Oper „Ruslan und Ludmila“ (Mariinsky I) sowie um 20 Uhr auf der neuen Bühne konzertant Verdis „Il Trovatore“. Allein aus dieser Aufzählung kann man entnehmen, dass das Mariinsky-Orchester nicht aus einem, sondern aus vielen Orchestern besteht: aus den Musikern, die mit Gergiev auf Tournee gehen bzw. spielen, wenn er zu Hause ist, den Musikern, die spielen, wenn das A-Orchester unterwegs ist (also oft), aus dem Ballett-Orchester sowie aus den Musikern, die Jugendkonzerte bzw. konzertante oder halb-szenische Opernaufführungen in der Konzerthalle bestreiten.
Wer in Kenntnis der Vorbereitung auf diese Aufführung misstrauisch war, ob nun nach den Gala-Festivitäten der graue Alltag einkehren würde, sah sich bald eines Besseren belehrt. Hier galt das aus dem Fußball bekannte Motto „Wichtig ist, was auf dem Platz geschieht“. MIKHAIL SINKEVICH, einer der vielen Haus-Dirigenten des Theaters, ist offensichtlich ein so versierter Kapellmeister, dass es ihm gelang, nach einer einstündigen, eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung endenden Verständigungsprobe den Abend zwar nicht mit schallplattenreifer Präzision, doch weitgehend unfallfrei über die Bühne zu bringen, und das mit einem Orchester der „Zurückgebliebenen“ und einem (allerdings hervorragenden) sich aus jungen Stimmen der Mariinsky-Akademie rekrutierenden Chor voll jugendlicher Klangfrische. Auf die als Leonora an diesem Hause debütierende TATJANA SERJAN prasselten am Schluss Beifallsorkane nieder. Die gebürtige St. Petersburgerin hat ihre Karriere bislang am Mariinsky-Theater vorbei gemacht, nicht zu ihrem Schaden, doch – so wage ich zu behaupten – zum Schaden dieser Institution. Eine solche Künstlerin würde dem Mariinsky gut zu Gesichte stehen. Eine interessant timbrierte, schlank geführte Stimme (danach kann ich mir Abigaille oder Lady Macbeth weniger vorstellen) von großer Klangkultur. Es wäre wünschenswert, diese international stark gefragte Künstlerin häufiger in ihrer Heimatstadt zu hören. Außer von Sängerinnen wie Cossotto oder Simionato hörte ich noch nie eine derart stimmschöne und eindrucksvolle Azucena wie die von EKATERINA SEMENCHUK. Sie „segelte“ mit ihrem herrlich timbrierten Mezzosopran ebenmäßig durch alle Register, besaß eine natürliche Tiefe, ohne sie künstlich zu verdicken, und hatte so Kraft für brillante (zum Teil eingelegte) Spitzentöne. Ohne das samtene Ausnahmetimbre einer Borodina zu besitzen (die allerdings bisher einen gro0en Bogen um die Azucena machte), würde ich Semenchuk, was den Gesamteindruck anbetrifft, ihrer großen Kollegin an die Seite stellen. München kann sich freuen, im neuen „Trovatore“ mit ALEXEI MARKOV einen der (meiner Meinung nach) derzeit weltbesten Lunas hören zu können. Ein herrliches Organ von großer Atemkontrolle und Legatokultur mit glänzenden Spitzentönen – was will man mehr?
Das Niveau dieser drei exzellenten Sänger wurde vom Manrico AVGUST AMONOVs nicht erreicht, doch mit seinem tenore robusto und guter Technik ist er ein verlässlicher, wenn auch nicht memorabler Künstler. ILYA BANNIK ergänzte unauffällig mit schlankem Bass als Ferrando. REGINA RUSATOVA war eine auffallend stimmschöne Inez. Fazit: Nach den Gala-Feierlichkeiten um die Eröffnung von Mariinsky II begann mit diesem Abend der Alltag am Mariinsky-Theater, und das mit einer Qualität, die anderenorts als Luxus-Gala verkauft worden wäre. Ein Beweis für die Leistungsfähigkeit dieses Theaters, auch wenn der allmächtige „Zar“ abwesend ist. Es war übrigens eine konzertante Aufführung, bei der die Sänger zwar in Abendkleid und Frack, doch derart geschmack- und eindrucksvoll spielten, dass ich die „Ideen“ eines Regisseurs gar nicht vermisste, der sich anschickte, ein Werk von den Fesseln seines Schöpfers zu befreien.
Sune Manninen