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SALZBURG/ Festspiele/ Haus für Mozart: ORPHÉE AUX ENFERS“

18.08.2019 | Operette/Musical


Joel Prieto, Kathryn Lewek, Max Hopp. Foto: Salzburger Festspiele/ Monika Rittershaus

ORPHÉE AUX ENFERS“ Haus für Mozart (17.8.2019)

Spannung und Entspannung: eine entfesselte Offenbachiade auf dem Olymp und im Orkus

Zwar ist die vielerorts kolportierte Nachricht, diese Produktion sei die erste „Bouffonerie“ Jacques Offenbachs bei den Salzburger Festspielen, ein fake: Herbert Wernicke hat nämlich bereits 2000 im Rahmen des Schwerpunkts zum Trojanischen Krieg (Gluck „Iphigénie en Tauride“,Mozart  „Idomeneo“ Berlioz „Les Troyens“) auf der Perner-Insel „La belle Hélène“ inszeniert. Aber sei’s drum: Denn die heurige Produktion im Herzen der Stadt stellt nach (erfülltem) Anspruch, dramaturgischem Konzept, musikalischer Verve und ‚packendem‘ szenischen Zugriff tatsächlich ein Novum, ein Ereignis, ein Gesamtkunstwerk dar, situiert zwischen furiosem Happening und exakter, punktgenauer Planung. Bekanntlich muss ja gerade Spontaneität wohlüberlegt sein.

Barrie Kosky hat in den letzten Jahren zwischen den Bayreuther Festspielen und der Komischen Oper in Berlin beispielhafte, sogar beispiellose Erfolge gelandet: Bei Wagner mit den exemplarisch inszenierten „Meistersingern von Nürnberg“, in seinem Stammhaus mit Revue-Operetten wie Nico Dostals „Eine Frau, die weiß, was sie will“ oder Paul Abrahams „Ball im Savoy“, aber auch mit einem unvergleichlich poetischen und einfühlsamen „Eugen Onegin“. Diesem universalen Bühnenmenschen zuzuhören, als Prinzipal bei einer Premierenfeier, als klugem und temperamentvollen Exegeten beim Pressegespräch oder als begeisternd-begeistertem Animateur bei Probenausschnitten ist stets ein Vergnügen. Wissen und Enthusiasmus ziehen bei dieser Persönlichkeit am selben Strang und in die gleiche Richtung.

Die Realisierung von Offenbachs Parodie, Travestie bzw. Persiflage auf die griechische Mythologie in Verbindung mit französischer Zeitgeschichte greift in dieser Produktion auf eine Mischfassung zwischen der originalen Partitur von 1858 und der um einige Nummern erweiterten Version von 1874 zurück. Ohne das Bestreben nach (tagespolitischer) Aktualisierung, aber auch abseits von historischer Belehrung erlebt man mit weitgeöffneten Augen und wachen Ohren eine szenische Wanderung von der thebanischen Behausung des Geigenlehrers Orphée und seiner gelangweilten Gattin Eurydice, die den Komplimenten des ‚Imkers‘ alias Herrn der Unterwelt nur allzu gern erliegt, über einen Olymp, auf dem Jupiter seine Sippschaft nur mühsam bei der Stange hält, bis hin zur Hölle, in der es infernalisch heiß zugeht. Umwerfend wie die Götter den Aufstand gegen ihren Chef proben, um sich später unbändig auf das Gastspiel im Orkus zu freuen: endlich einmal Chili con Carne und Champagner anstatt von Nektar und Ambrosia, dem sattsam bekannten Alltagsmenü. Und umwerfend endlich die ‚Apotheose‘ der Eurydice, die Bacchantin wird und den drei rivalisierenden Männern Orphée, Jupiter und Pluton einen sauberen Korb gibt: Die beiden siegesgewissen göttlichen Eroberer werden zu erbärmlichen Losern. Eurydice ist also, wie viele andere weibliche Protagonistinnen in Offenbachs Stücken – Hélène, Boulotte, La Périchole, die Großherzogin von Gerolstein – die erfolgreich aktive Figur, die gewitzte Siegerin und ein Frauenzimmer, das den Mannsbildern gehörig auf der Nase herumtanzt, sie düpiert, blamiert und abserviert. Das Platzangebot verbietet es, auf die zahlreichen, nein: zahllosen szenischen Einfälle, darstellerischen Facetten und mimischen Eskapaden detailliert einzugehen: man muss es einfach gesehen (und gehört) haben!

Der Regisseur hat in seinem Team (Rufus Didwiszus: Bühne, Victoria Behr: Kostüme, Franck Evin: Licht, Otto Pichler: Choreografie, Susanna Goldberg: Dramaturgie) treffliche, solidarische und wohl auch inspirierende Partner zur Seite. Das aus mehreren Nationen zusammengestellte Ensemble der Sänger und Schauspieler erfreute ohne Einschränkungen, wobei einige Künstler dank ihrer Rolle, aber auch durch die persönliche Leistung besonders herausragten. Kathryn Lewek als Eurydice brillierte mit ihrem exzellenten Koloratursopran, aber auch durch ein herrliches Talent zur Selbstpersiflage. Ihr handlungsbedingt etwas zurückgesetzter Gespons war bei dem kultivierten ‚Tenore di grazia‘ Joel Prieto, einem weltweit bekannten Mozart- und Rossini-Interpreten, bestens aufgehoben. Anne Sofie von Otter verkörperte die Öffentliche Meinung als eine Götter wie Menschen dominierende Autorität mit vokalem Raffinement und augenzwinkernder Ironie. Der bewährte Charakterbariton Martin Winkler, erklärter Liebling des Publikums der Wiener Volksoper, überzeugte als Jupiter durch Stimmvolumen und pointierten Vortrag. Dasselbe gilt für Frances Pappas als seine Göttergattin: die große Künstlerin, am Salzburger Landestheater als Marie in „Wozzeck“ und Mrs Begbick in „Mahagonny“ in bester Erinnerung, hat sich ihr neues komisch-verschmitztes Fach völlig erobert. Erfreulich Marcel Beekman als hellstimmiger Herr der Unterwelt, Vasilisa Berzhanskaya, als aparte Diana (mit einem Schuss Menthol!), Lea Desandre als attraktive Venus und Nadine Weissmann als ihr übermütiger Adlatus Cupido. Auch Peter Renz (Mercure) und Rafał Pawnuk (Mars) stellten köstliche, stimmlich ‚saftige‘ Gestalten auf die musikalische Bühne. Trickster, Magister ludi, Moderator des Geschehens und zugleich larmoyanter Interpret des John Styx ist in dieser Produktion Max Hopp. Mit allen Tugenden eines Vollblutkünstlers begabt, setzte er die Königsidee der Regie, sämtliche Dialoge zu den synchronen Mundbewegungen der jeweiligen Person auf Deutsch zu sprechen, aber auch alle Geräusche vom Trippeln bis zum Küssen akustisch erlebbar zu machen, kongenial um. Die Wiener Philharmoniker unter der so kundigen wie enthusiasmierten Stabführung von Enrique Mazzola nützten die Gelegenheit, einmal so richtig drauf los geigen, flöten, trompeten, posaunen, trommeln und pauken zu dürfen,  mit hörbarem Vergnügen. Die Leistungen des Vocalconsort Berlin (David Cavelius: Choreinstudierung) sowie der zwölf Tänzerinnen und Tänzer – solistisch wie als Corps de Ballet – angemessen zu würdigen, bedürfte eines eigenen Artikels.

Das Publikum der von mir besuchten zweiten Vorstellung bedankte den so virtuosen wie vergnüglichen Nachmittag „mit Beifall und Händeklatschen“, wie es in den Parlamentsprotokollen so schön heißt, nicht zu knapp und mit bemerkenswerter Ausdauer.                                  

Oswald Panagl

 

Oswald Panagl

Ein Dauergast der musikalischen Bühne

Der Mythos von Orpheus und Eurydike

 

  1. Konstanten und Variablen

                Der Verfasser dieses Beitrags durfte vor genau zehn Jahren ein Symposion über Antiker Mythos im Musiktheater des 20. Jahrhunderts einleiten und hat sein Eröffnungsreferat unter einen plakativ-griffigen Titel gestellt: Iphigenie geht – Ödipus kommt – Orpheus bleibt. Hinter dieser kontrastiven Formulierung steht eine Tendenz, die sich qualitativ am Hervortreten und Hinschwinden mythologischer Sujets und quantitativ an Vertonungszahlen wie Aufführungsfrequenzen im europäischen Musiktheater ablesen lässt. Die Manifestationen edler Menschlichkeit, aber auch die bukolischen Themen und idyllischen Motive aus dem griechischen Sagenschatz haben im Opernschaffen des 17. Jahrhunderts Konjunktur, erreichen ihren Höhepunkt im folgenden Saeculum und werden an der Wende zur Moderne vor neuen Erfahrungsschichten und Erlebnishorizonten als Stoffe obsolet.

                Dagegen wird der Mythos von König Ödipus mit seiner existentiellen Aussage, seiner irrationalen Betroffenheit vor der conditio humana erst in unserem Jahrhundert wirklich als Projekt des Musiktheaters entdeckt: von Ruggero Leoncavallo, Igor Strawinsky, George Enescu, Carl Orff und Wolfgang Rihm, um nur einige besonders markante Stationen aufzulisten. Dass diese Geschichte auch von so typischen geisteshistorischen Vertretern der Neuzeit wie Sigmund Freud und Claude Lévi-Strauss als Paradigma herangezogen und zur Chiffre auserwählt wird, passt lückenlos in dieses Szenario.

                Doch kommen wir nunmehr zum „Orpheus“-Mythos: Er steht am Anfang des operndramatischen Schaffens („Euridice“ von Jacopo Peri und Giulio Caccini, 1600) und hat seitdem die Bühne nicht mehr verlassen: Ob es sich um die Fortschreibung einer Tradition handelt (Haydn), ob das antike Milieu den Schauplatz und die Requisiten für eine Karikatur der Zeitgeschichte liefert (Offenbach), ob moderne Komponisten eine frühe Ausformung des Stoffes neu gestalten, zeitgenössisch wiederbeleben wollen (Monteverdi – Orff) oder ob ein Komponist der Zwischenkriegszeit eine Neufassung des Sujets in der Tonsprache seiner Tage beispielhaft umsetzt (Kokoschka – Krenek).

  1. Per aspera ad astra

                Claudio Monteverdi hat den „Orfeo“, seine erste „Favola in musica“, für den Karneval des Fürstenhofes zu Mantua komponiert. Die Uraufführung am 22. Februar 1607 gestaltete sich zu einem überwältigenden Triumph für den Autor und zu einem folgenschweren Ereignis für die weitere Geschichte der Gattung Oper. Die allegorische Gestalt der Musik verkündet zu Beginn persönlich das Thema: es geht um den göttlichen Sänger Orpheus. Dieser und die ihm eben vermählte Euridice preisen im Verein mit Nymphen und Hirten als dem ländlichen Ambiente ihr junges Liebesglück. Orpheus ist voll von Begeisterung und Dankesgefühlen für die Götter und erhofft sich dauerhafte Erfüllung. Als der Sänger später in der Mittagsglut wieder an Euridice denkt und sich an die schmachtenden Klagelieder seiner noch unerfüllten Liebe erinnert, berichtet eine Botin den Tod der Gattin: Eine Schlange hat sie gebissen, als sie gerade Blumen pflückte, und der Name „Orpheus/Orfeo“ war ihr letztes Wort. Der Verlassene beschließt den Gang in die Unterwelt: Kann er Pluto nicht erweichen, so will er selbst mit Euridice bei den Toten bleiben. Er dringt bis zu den Pforten des Schattenreichs vor, das sich mit dem Wort aus Dantes „Divina commedia“ erklärt: „Lasst, die ihr eingeht, alle Hoffnung fahren!“ Orpheus kann die Gemahlin des Totenherrschers, Proserpina, mit seinen Klagen erweichen. Sie erinnert Pluto an ihr eigenes Liebesglück und bittet Euridice frei. Doch Orpheus – und das ist ja das Leitmotiv aller Gestaltungen – darf sich nicht nach ihr umsehen, ehe sie wieder das Licht der irdischen Welt erreicht haben. Als er sich und Euridice von Furien bedroht glaubt, durchbricht er das Verbot und verliert die Geliebte endgültig. Dem Leben zurückgegeben, verzweifelt Orpheus über sein Geschick und gelobt der Verstorbenen ewige Treue. Apollo, der Vater des Sängers (eine neuere Variante des antiken „deus ex machina“), tröstet den Sohn mit der Verheißung ewigen Künstlerruhms und der Überwindung persönlichen Schmerzes. In einer jenseitigen Welt der Gestirne, in die Orpheus dem Gotte folgt, werde er auch Euridices Licht begegnen. Die Hirten feiern als treue Begleiter die Verklärung des göttlichen Sängers. Diese Schlussapotheose hat Monteverdi freilich erst für die veröffentlichte Fassung geschaffen. In der Erstaufführung des Werkes 1607 bildete die Flucht des Sängers vor den Bacchantinnen das dramaturgisch offene Ende.

 

                Als der Librettist Ranieri de Calzabigi 1761 in Wien für seinen Operntext „Orfeo“ einen geeigneten Komponisten suchte, wurde er auf Christoph Willibald Gluck aufmerksam, dessen Ideen zu einer Reform der Oper hier auf ein besonders taugliches Sujet stießen. Die 1762 am Wiener Hofburgtheater uraufgeführte italienische Fassung machte wohl Eindruck, konnte sich aber gegen den Druck anspruchsloserer Konkurrenz nicht auf Dauer behaupten. So entschloss sich Gluck ein Jahrzehnt später zu einer Umarbeitung und Erweiterung, die als Pariser Fassung mit dem Titel „Orphée et Euridice“ in französischer Sprache und mit obligatem Ballett 1774 einen anhaltenden Erfolg erzielt hat.

                Bei Gluck und Calzabigi zeigt schon der Beginn der Oper den verlassenen und verzweifelten Orpheus, der über dem Tod der Gattin seine Kunst vergessen hat, dem die Leier nicht mehr tönt – eine tiefe Symbolik! Er will sich eben aufraffen, der Unterwelt die Tote zu entreißen, als ihm der Liebesgott Amor/Eros den Entschluss der Götter verkündet, Euridice dem Gatten freiwillig zurückzugeben. Doch muss er sie selbst aus dem Totenreich wieder auf die Erde führen und darf sie auf diesem Wege nicht anblicken. Orpheus, dem die künstlerische Schaffenskraft zurückgekehrt ist, besänftigt mit seinem Gesang die unterirdischen Schreckensgestalten und entlockt den seligen Geistern den Schatten seiner Gattin. Doch diese kann sein seltsames Betragen, die Abwendung seines Blickes, nicht verstehen. Sie muss an seiner Liebe zweifeln, ihr vernehmlicher Todeswunsch lässt Orpheus seinen Auftrag vergessen. Durch ihren neuerlichen Tod in den Wurzeln seiner Existenz getroffen und tief verwundet, sucht der Sänger nur noch das Ende. Da erscheint abermals der Liebesgott als Bote des Himmels. Seine treue Liebe habe die Götter gerührt, die ihm seinen Ungehorsam verzeihen und Euridice wieder zuführen. Inmitten der Hirten preisen die Liebenden vereint die Macht des Eros.

                Als Joseph Haydn schon in reifem Lebensalter am Neujahrstag 1791 von Calais nach Dover übersetzte, um die nächsten anderthalb Jahre in England zu leben, hatte er neben seiner symphonischen Arbeit auch einem musikdramatischen Kompositionsauftrag zu genügen. Der Operndirektor Gallini bot ihm 300 Pfund für die Vertonung eines Textes von Carlo Francesco Badini, der unter dem Titel „L’anima del filòsofo“ den Mythos von Orpheus und Eurydike behandelte. Im Gegensatz zu den meisten Fassungen des 18. Jahrhunderts, vor allem aber zu Calzabigi und Gluck, deren gemeinsame Schöpfung damals bereits weithin bekannt und gefeiert war, endet dieses Libretto tragisch. Eurydike darf nicht ins Leben zurück, und Orpheus trinkt einen Todestrank, den ihm Bacchantinnen, die ja in der antiken Erzählung von Orpheus‘ Tod eine verhängnisvolle Rolle spielen, kredenzen. Sie entführen ihn danach auf einem Schiff, das in einem heftigen Sturm zerschellt.

                Dieser Gegenentwurf zu Gluck enthält viele Chöre, das ariose Element erscheint stark zurückgedrängt. Das Werk, dessen Aufführung durch einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf zwischen dem King’s-Theatre und der italienischen Oper im Pantheon zu London verhindert worden war, ist 1806/7 in verkürzter Fassung (11 Musiknummern) und unter dem eindeutigen Titel „Orfeo ed Euridice“ im Druck erschienen, wobei der Verlag Breitkopf & Härtel offenbar eher an eine konzertante Aufführung gedacht hat. Ob die vereitelte Premiere in London daran schuld war, dass diese Partitur Haydns letztes Bühnenwerk geblieben ist?

Nach Vermutungen des Haydn-Experten Georg Feder ist ja auch der abrupte Schluss nicht künstlerisch gewollt, sondern durch das Scheitern der Bühnenaufführung verursacht.

                III. Im Zerrspiegel der Travestie

                „Orpheus in der Unterwelt“ („Orphée aux enfers“) von Jacques Offenbach nach dem Libretto der Autoren Hector Crévieux und Ludovic Halévy, 1858 in den Bouffes-Parisiens uraufgeführt, ist als Fallstudie der Mythenrezeption in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Dass die antike Gewandung zeitgenössische Gesellschaftskritik und Politikschelte transportiert, hat man längst bis ins Detail analysiert: Das Leben im Olymp mit dem popanzhaften Jupiter, seiner aufmüpfigen Großfamilie und dem allgemeinen Überdruss an Nektar und Ambrosia, sprich: den Privilegien und Attitüden der Nobilität, parodiert den Hof Napoleon III. im sogenannten Zweiten Kaiserreich (‚Seconde Empire`). Dass sich alle Akteure, selbst die Herren des Himmels und der Unterwelt, der personifizierten öffentlichen Meinung beugen müssen und vor ihren Ansprüchen zu jedem Opfer bereit sind, ist ein nur allzu deutlicher Seitenhieb auf die Macht des wuchernden Journalismus. Und wenn Orpheus, der bürgerliche Virtuose und Geigenlehrer am Konservatorium von Theben, der längst aus seiner verhassten Ehe ausgebrochen ist, vor den Göttern mit dem Zitat von Glucks Klagearie seelischen Schmerz simuliert, so wird auch die musikalische Repertoirekenntnis und Hörerfahrung in den Dienst der Travestie gestellt. Zwei subtile Beobachtungen von Volker Klotz seien zur Charakterisierung dieses Archetyps der ätzend-aufmüpfigen Operette noch angeführt. Die durchgängige Triebkraft der Personen und zugleich das Movens der Dramaturgie ist die Konkurrenz: ob in der Kunstübung, in erotischen Belangen oder in der Machthierarchie, immer ist der Wettbewerb, ist der Positionskampf angesagt. Der zweite Hinweis des genannten Interpreten ist vielleicht noch gewichtiger: Dieses Bühnenwerk ist auch ein Stück emanzipatorischer Literatur. Denn Eurydice ist die einzige Figur der Handlung, der es wesentlich um das Lieben und Geliebtwerden, nicht aber um maskierte Besitzansprüche geht. Aus allen drei Duetten mit den Männern (Orpheus, Aristeus-Pluto, Jupiter als Fliege) geht sie innerlich enttäuscht, aber als emotionale Siegerin hervor. Und wenn sie am oberflächlich fröhlichen Ende des Geschehens als Bacchantin in den Reigen des Gottes der Ekstase – Bacchus – eingeht, so kann sie endlich ihre seelische Disposition, ihre Vorliebe für ein Dasein  ohne Zwänge und Rücksichten ausleben.

 

  1. Persönliche Trauerarbeit am Mythos

                Oskar Kokoschka hat sein Drama „Orpheus und Eurydike“ 1915 im Ersten Weltkrieg gedichtet, um es dann 1917 gründlich umzuarbeiten. Das Kriegserleben, eine schwere Verwundung und die Bewältigung einer krisenhaften Liebesbeziehung zu Alma Mahler-Werfel spiegeln sich allenthalben in dieser Dichtung, sind Motiv und prägende Kraft der Neudeutung des überkommenen Stoffes. In einem späteren Brief bekennt Kokoschka, er habe diesen Text nach seiner schweren Kriegsverletzung „gesprochen, geflüstert in Ekstase, im Delirium, geweint, gefleht, geheult in Angst und Fieber der Todesnähe“. Und im Rückblick formuliert der betagte Künstler 1956: „Ich schrieb in dieser Zeit ein Bühnenstück, `Orpheus‘, das ich im russischen Militärlazarett ausdachte in Erinnerung an jene Frau, der ich Blumen täglich nach Nizza gesandt habe. Nur noch die bunte Glasschnur roter Perlen band mich an die Frau. An diesem Abend glimmte die Schnur am Hals einer anderen im dunklen Zuschauerraume. Was sie jemals zu mir heimlich gesagt und was ich sie gefragt habe, Orpheus und Eurydike sollen es, auf der Bühne, aller Welt verraten.“ Ein Drama seelischer Konflikte, emotionaler Befreiung und aktueller Zeiterfahrung also hat da Ernst Krenek nach einer Begegnung mit Oskar Kokoschka vertont und die Komposition 1923 vollendet.

                Der heimkehrende Orpheus und Eurydike versichern einander ihre bedingungslose Liebe. Doch die Furien als Abgesandte der Unterwelt erwirken bei der dienenden Psyche (mit Doppelsinn des Namens!) Eingang zum Schlafgemach. Eurydike soll für sieben Jahre zu Hades – als Person und Bereich verstanden – hinabsteigen. Als sie Orpheus ihre Liebe ausspricht („Selbst in tausend Toden lieb ich noch mehr dich“), entfällt ihrer Hand bedeutungsschwer der Ring. – Nach fünf Jahren dringt Orpheus in die Unterwelt ein und erbittet Eurydikes Rückkehr „für einen kurzen Sommer“. Auf einer abenteuerlichen Meerfahrt fischen Matrosen einen Totenkopf; diesem entrollt ein Ring, dessen Inschrift nur noch eine zweideutige Aussage erkennen lässt: Allos makar, „Glück ist anders“ oder „der andere glücklich“. Eurydike bekennt, die Geliebte des Hades geworden zu sein, und verlässt das Schiff, in das nun ein Blitz einschlägt. – Nach zwei weiteren Jahren findet Orpheus im Schutt seines Hauses die zerbrochene Leier und verflucht, indem er wieder auf ihr zu spielen versucht, „Sonne und Mond, alte Zeiten, Wollust und Wahnsinn, selbst das Bild Eurydikes“. Er wird das Opfer seiner empörten Umgebung und im Ruinenfeld aufgehängt, das sich nunmehr in ein Niemandsland zwischen Leben und Tod verwandelt. Orpheus ist unfähig, die Untreue seiner Gattin im Jenseits zu vergeben, er versucht sie dennoch wieder an sich zu binden („Triumph! Ich lass‘ dich nicht sterben … Hinter der Liebe bis in den Tod steckt Hass!“) Doch sie reißt sich endgültig von ihm los und entschwindet im Geisterreigen („So im letzten Kampf umarmend, voll Entsetzen, für letzten Kuß, aus des Orpheus erstarrten Kiefern lös‘ ich mich endlich ledig …“). Erst das Nachspiel, in dem ein Chor hoffender Seelen dem Nachen der Psyche folgt, bringt einen Hoffnungsschimmer in dieses Drama einer verquälten Passion, einer mythisch-metaphysisch unterlegten Zweierbeziehung.

                Kreneks Oper, die erst 1926 in Kassel uraufgeführt worden ist, entzieht sich einer eindeutig klassifizierenden Zuordnung. Debussys Harmonik, Wagners Leitmotivik, Mahler-Reminiszenzen, die Erweckung alter Formen wie der Passacaglia und atonale Passagen ergeben einen gemischten Personalstil, den der Komponist in seiner „Selbstdarstellung“ so beschreibt: „Wiederum schrieb ich die Musik in fieberhaftem Tempo, wie in einem Traum. Ab und zu erfaßte ich die tiefere Bedeutung des Textes in plötzlicher Erleuchtung, dann tappte ich wieder im Dunkel, mehr meinem schöpferischen Instinkt vertrauend als meinem Intellekt.“

                Der Orpheus-Mythos vereinigt nach Art eines Brennspiegels verschiedenartige Motive und Handlungsfacetten: den Zauber und die verwandelnde Kraft der Musik, die Spannung zwischen endlichem Leben und unendlicher Sehnsucht, den Verlust eines geliebten Partners, den Zwiespalt zwischen Auftrag und spontanem Gefühl, die Ausgesetztheit des Menschen. Die jeweilige Mischung, die veränderte Perspektive, die subjektive Gewichtung erlauben ein schier unendliches Spiel der Variation, das sich auch im modernen Drama (Cocteau, Anouilh, Tennessee Williams) oder im Film (Orfeu Negro) reizvoll verfolgen ließe. Ein Ende der Herausforderung durch diesen Stoff ist nicht abzusehen.

 

 

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