Paris „TRISTAN UND ISOLDE“ konzertant Théâtre des Champs Elysées 11.3.2012
Andris Nelsons. Foto: Marco Borggreve
Nach Lohengrin 2011 triumphiert Andris Nelsons nunmehr mit einer konzertanten Aufführung von Wagners Tristan und Isolde unter Mitwirkung des City of Birmingham Symphony Orchestras und einer exquisiten Besetzung. Nach den letzten Takten des Liebestodes verging eine lange Zeit in absoluter Stille. Der einem „Aufwachen“ gleichende ganz zaghaft einsetzende Applaus steigerte sich rasch zu einem begeisterten puren Pakt zwischen Podium und Publikum. Ein äußerst rares Erlebnis.
Den Löwenanteil an der besonderen Kraft dieses konzertanten Opernabends hat wohl die emotional dichte Lesart und unmittelbar fesselnde Umsetzung der Partitur durch den lettischen Chefdirigenten des renommierten Klangkörpers aus Birmingham. Es muss und wird wohl nicht nach jedermanns Geschmack sein, wie sehr Andris Nelsons‘ Interpretation zwischen einem absoluten Aufhängen der Zeit (Vorwegnahme Parsifals) etwa im Vorspiel des 1. Aktes oder der rasenden Zuspitzung und Verdichtung zu Ende des 1. Aktes changiert. Final handelt es sich aber um dem Sujet einer idealen Liebe, Ehebruch, Verrat und Tod stimmige dynamische Extremdeutung, die dem Zuhörer den Atem nimmt. Das ist letztendlich das Geheimnis und Unverwechselbare einer echten künstlerischen Handschrift, die diesem charismatischen Dirigenten zu eigen ist. Wie sorgfältig ihm sein mitstreitendes Orchester und der Chor accentus (Einstudierung: Pieter-Jelle de Boer) in allen musikalischen Details folgen, wie sehr alle (Instrumental-) Solisten in diesen faszinierenden Duktus irgendwo zwischen den Welten Hans Knappertsbuschs und Leonard Bernsteins einstimmen, das war das große Faszinosum an dem denkwürdigen Sonntagabend im TCE. Der im Sitzen dirigierende völlig uneitle Nelsons konnte sowohl die innere Ruhe im Detail mit exaktem Schlag als auch das fieberhafte Vorwärtsdrängen und schwindelerregende Anschwellen der Klangwogen in konzentrieren Bewegungen wie ein Leistungsschwimmer, der im letzten Sprint um das Äußerste kämpft, eindringlich übersetzen. Und das mit einer kreativen, jungenhaften Natürlichkeit und spontanen Selbstverständlichkeit eines, der weiß, welche Meere er befahren will.
Als Gefährten auf dieser musikalischen Hochsee-Reise haben in den Hauptrollen Stephen Gould als Tristan und Lioba Braun als Isolde reüssiert. Stephen Gould ist physisch und stimmlich monumental, aber so wie der ähnlich gelagerte Fall des Johan Botha scheinen bei allen schier unendlichen vokalen Ressourcen die Ausdrucksfähigkeit und das dynamische Differenzierungsvermögen doch recht bald an spürbare Grenzen zu stoßen. Gould verfügt über jede Kondition, um selbst die gefürchteten Ausbrüche im 3. Akt technisch bravurös zu bestehen. Allein berühren kann er damit nicht. Zu sehr sitzt die eher weiße Stimme in der Maske und wirkt bei aller Wucht eigentümlich dramatisch flach. Auch fehlen bis auf wenige Piani die leiseren melancholischeren Töne und ein ruhig strömendes Legato. Das fällt umso stärker im Liebesduett des 2. Aktes auf, als die schöne Lioba Braun mit wunderbar samtener Mittellage traumwandlerisch den Intentionen des Dirigenten folgend vorführt, was an emotionalem Ausdruck bis hin zur vokalen Feinabstimmung mit den oszillierenden Orchesterfarben möglich ist. Lioba Brauns Mezzosopran klingt dann abwechselnd schicksalshaft wie Oboe oder Fagott, dunkel und sehnsüchtig wie ein Englischhorn oder mächtig golden wie Trompetenfanfaren, ohne in dieser Klang-Metamorphose die Frau, die immense Weiblichkeit der Isolde zu verlieren. Ihr Liebestod ist transzendentes allmähliches Entschwinden in des „Weltatems“ Stille. Und mit herrlichem Legato und freier Höhe nebstbei ein Triumpf heutigen Wagner-Gesangs. Ich verhehle nicht, dass Liobas Braun Isolde mich sehr berührt hat. Von Brangäne und Kundry kommend scheint ihr dramatischer hoher Mezzo auch angesichts der Tessitura der Partie stimmfarblich idealer für Isolde als sie das für andere Kolleginnen mit hellerem, metallenerem Sopran ist. Über einen solchen Stimmcharakter verfügt indes die Brangäne der Christianne Stotijn. Ihr in der Mittellage etwas (zu) unruhiger Mezzo, der in der Höhe jedoch in den schönsten Farben leuchtet, setzt damit einen wirksamen Kontrast zu ihrer auch charakterlich dunkleren Herrin.
Die größte Entdeckung für mich ist der kanadische Bariton Brett Polegato. Die immens schwierige Partie des Kurwenal singt er rhythmisch wie ein Uhrwerk mit heldisch bestens fokussiertem Kavaliersbariton. Man muss nicht Prophet sein, um davon überzeugt zu sein, dass ein Aufstieg in die Liga des etwa stimmtypisch nicht unähnlichen Gerald Finley nicht lange auf sich warten lassen wird.
Matthew Best als König Marke imponierte trotz leichter Indisposition mit dem aufwühlenden Portrait eines betrogenen, verratenen älteren Mannes. Wie Mozarts Titus weiß er sein Schicksal mit Würde zu tragen, wenngleich er sich immens vor der (eigenen?) Wahrheit fürchtet. In seinem Monolog wie ein langer ruhiger Fluss, in dem die Zeit vollkommen aufgehoben scheint, schiebt er den Augenblick der Konfrontation mit sich selbst so lange als möglich hinaus. Ich frage mich immer, ob Wagner den macht- und lebenserfahrenen Marke nicht (un)bewusst eine Art zweifache Schuld sühnen lässt. Marke als Sinnbild, um mit des Komponisten Biographie zu sprechen, nicht nur des betrogenen Otto von Wesendonck, sondern ebenso des Richard Wagner als idealisiertes alter Ego Tristans selbst. Matthew Best gelingt es mit seiner Vokalstudie, diese doppelte Verzweiflung zum tönenden Bekenntnis werden zu lassen.
Ben Johnson als See- und Steuermann und Benedict Nelson als Melot und Hirte komplettierten kompetent das insgesamt erstklassige Ensemble.
Fazit: Man darf auf neue Wagner-Erkundungen durch Andris Nelsons gespannt sein. Ein großer Dirigent mit unverwechselbarem Profil ist er jedenfalls jetzt schon.
Dr. Ingobert Waltenberger