
Die Campersiedlung Mahagonny
Kurt Weill / Berthold Brecht
“Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny”
Oper Graz – Premiere 22.Mai 2013
Koproduktion mit Vlaamse Opera
Bieito demaskiert unsere Sehnsüchte
Sind wir wirklich so wie es der Katalane Calixto Bieito uns in seiner theatralisch überschäumenden und an die Grenzen des Möglichen gehenden Inszenierung der Brechtschen Metaphernshow vorführt? Werden wir zu amoralischen Bestien dann, wenn alles erlaubt ist, wie in der neugegründeten Wüstenstadt des Stücks? Zur Bestätigung dessen genügt eigentlich der Blick auf den frei Haus gelieferten Ungeist angeblich zivilisierter Völker, die zum Thema ihre Beiträge im Iran oder Guantamano und sonst wo auf der Welt setzen, genügt der Blick hinter die Kulissen unserer Unterhaltungsindustrie mit ihren im TV-Glitzer stattfindenden Bewerbe des Fressens und Gefressenwerdens, um Dinge, die Brecht so verharmlosend in seinen Kalendersprüchensongs vorführt, in der Realität aber zum Erbrechen reizen, so wie es dem Holzfäller Jack im Stück beim Fresswettbewerb ergeht.

Fran Lubahn als Begbick und Herbert Lippert als Jim
Bieito reizt die Möglichkeiten der Vorlage auf der Bühne mit gleich zehn echten und übereinander gestapelten Wohnwagen weidlich aus, ein bewundernswertes, seinen Wünschen folgendes Ensemble hurt und onaniert, vögelt und säuft, spielt und mordet sich durch den Abend. In einer entfesselten Show, weniger sehenswert der stückimmanenten, nur wenig variantenreichen Einfälle wegen (wir wissen ja doch schon, in wie vielen Arten und von welchen Seiten Man(n) eine Frau besteigen kann), aber sehenswert wegen deren theatralischer Umsetzung, einer überbordenden Phantasmagorie aus bunten und einfallsreichen Kostümen, einer bis zum letzten der Sängerinnen und Sänger und bis zu jedem Chormitglied und Statisten hervorragend choreographierten Bewegungsregie.
Graz versus Wien 1:0
“La Fura dels Baus” sollte ursprünglich in Wien dieses Stück gemeinsam mit dem Madrider Teatro Real herausbringen, in einer Inszenierung, die dem Vernehmen nach Direktor Meyer zu radikal erschien. Herausgekommen ist ein “Moralprediger-Fasching” des “längst harmlos gewordenen Anarchoclowns Jérome Deschamps” dessen Regietat dann an unserer Staatsoper als “Eingroschenoper” floppte. (Alle Zitate aus der “Wiener Zeitung”). Ein 1:0 für den Grazer Mut, sich dem früher so radikalanarchischen Spanier anzuvertrauen, der zumindest im Rahmen des Stücks einen überzeugenden Theaterabend abliefert, eine Regie, die Brecht ja schon wieder wegen deren Unterhaltungswert und deren Hang zur Opulenz und Genußhaftigkeit unterläuft.
Was man bei Bieito vermisst, das ist ein unmittelbarer Bezug auf heutige Zeiterscheinungen des Kapitalismus und der Geldmacht. Die Androhung der Todesstrafe für Leute ohne Geld, wie sie in dem Stück etwas märchenhaft von Brecht mit der Hinrichting des Jim Mahoney endet, scheint für heutige Auslegungstendenzen gar etwas karg. Wird doch schon jeder Schinken und jeder Schmarrn heute von zeitgeistigen Regisseuren auf Aktualität abgeklopft und mit oft mehr als unnötiger persönlicher Sicht auf innewohnende Psychologie oder Gesellschaftspolitik überbordet. Was Brecht da erzählt, hätte mehr ins Da und Jetzt geholt werden müssen. So fasziniert die Show und rührt keineswegs deren Inhalt oder schockt das Gebotene.

Die überragende Jenny: Margareta Klobucar
Eine hervorragende Ensembleleistung…
…bietet die Grazer Oper, ihre Sängerinnen und Sänger beherrschen jenen Gesangsstil, der zwischen großer Oper und Song pendelt. Allen voran Margareta Klobucar als Jenny, very sexy und verrucht, lotet sie mit ihrer stimmlichen Reichweite die Partie bestens aus. Und Herbert Lippert als der von ihr beim Prozess schmählich im Stich gelassene Jim setzt seinen Prachttenor samt einem lange gehaltenen hohen “C” erfolgreich ein. Bemerkenswert auch seine schauspielerische Leistung, vor allem seine Hinrichtung, die per Elektroschock für den an einem Einkaufswagerl gefesselten erfolgt. Während die Songs vom Chor und den Solisten mitten im Zuschauerraum gesungen ertönen und die Wohnwägen verschwinden, bleibt der schauerlich erstarrte Leichnam auf der leeren Bühne zurück.
Die anderen waren, je nach Rollenbild köstlich, komisch oder ungustiös in ihren Partien: Taylan Reinhard als Fatty, der in Priesterverkleidung agierende Dreieinigkeitsmoses von David McShane, Manuel von Senden als Jack und als Tobby, der Bill von Ivan Orescanin und der als Alaskawolf agierende Konstantin Sfiris. Dass Fran Lubhan als Begbick gesanglich einiges schuldig blieb äußerte sich in Buhrufen, ich ließe ihre Leistung in dieser Inszenierung aber unter “eigenwillig” durchgehen. Die Sprechrolle des Confréncier gestaltete Daniel Doujenis, dessen Tochter mit den gemalten Plakattäfelchen war Teresa Stoiber.
Der Franzose Julien Samenkour trieb die Grazer Philharmoniker zu Weill-gerechtem Stil hörbar erfolgreich an. (Im Herbst eröffnet die Grazer Oper den Premierenreigen mit einem Lohengrin unter seiner Leitung). Nachzutragen ist Margo Zalite, die für Bieito die profunde Einstudierung besorgte (wie bei vielen Koproduktionen, die nachgespielt werden, sorgte auch hier der Regisseur erst kurz vor der Premiere für den letzten Schliff). Rebecca Ringst war für die Wohnwagensiedlung verantwortlich und Franck Evin für dessen gelungene Beleuchtung. Die Choreinstudierung hatte Bernhard Schneider über.
Das Publikum feierte die Protagonisten am Schluss ausgiebig, die Regie wurde da ohne Gegenstimme mit einbezogen.
Fazit: Vor allem nach der Pause sehenswert.
Peter SKOREPA
(Bilder von W.Kmetitsch)