„The Rest is Noise“ nach Alex Ross
Ein Lesemarathon in vier Etappen an den Münchner Kammerspielen
Erste Etappe: 29. November 2013
„Das 20. Jahrhundert hören“ lautet der Untertitel der 2007 erschienenen Musikhistorie von Alex Ross, die das Ensemble der Münchner Kammerspiele in dieser Saison als Fortsetzungs-Lesemarathon auf die Bühne – oder vielmehr: in den verwandelten Zuschauerraum – ihres Hauses bringt. Am Freitag war Premiere der ersten Etappe, drei weitere sollen im Lauf der Spielzeit folgen. Entlang der Kapitelfolge des New-Yorker-Musikkritikers geht es dabei chronologisch einmal quer durchs Jahrhundert. In der ersten Folge von Strauss bis Satie, das Schlusslicht wird wohl Adams „Nixon in China“ bilden.
Der Vorteil des Theaters im Vergleich zur stillen Lektüre liegt schon darin, dass es hier tatsächlich etwas zu hören gibt. Dafür stehen in München nicht nur zwölf bestens gelaunte Ensemblemitglieder in Alltagsklamotten und mit dicken Textheften präpariert vor dem Eisernen Vorhang bereit, auch Musik ertönt: mal im Hintergrund, mal als Hör-Einspielung, mal im Film, aber auch viel live Gespieltes (musikalische Konzeption: Carl Oesterhelt). Da ist man gespannt, wie es nun tatsächlich zusammenklingen wird, das Konzert der vielfältigen Musiksprachen und -religionen, „die brodelnde Masse verschiedenster Kulturen und Subkulturen“, wie Wiebke Puls – alias Autor Ross und Conferencière des Abends – das Publikum zur Begrüßung einstimmt. Schwungvoll nimmt sie auf ihrem Drehstuhl im Zentrum des hellerleuchteten Jugendstilsaals Platz und lächelt charmant in die Runde der Zuschauer. Die haben es sich auf Plüschsesseln an stilechten Caféhaustischen bequem gemacht. Die Show kann beginnen.
Und was nun folgt ist in der Tat Unterhaltung pur. Das liegt schon daran, dass Ross einfach ein begnadeter, glänzend eloquenter Erzähler ist. Schon die erste Szene wirft die Zuhörer mitten hinein in die Welt der Strauss‘schen „Salome“-Premiere in Graz im Jahr 1906. Ein bedeutendes Datum für die Musikgeschichte, aber ebenso ein gesellschaftliches Ereignis, bei welchem das „Who is Who“ der europäischen Kunstszene aufeinandertraf. Und nicht nur die empfanden ihre Anwesenheit als ein Muss: Auch der junge Hitler soll dort gewesen sein, und Thomas Mann schmuggelte seinen Komponisten Adrian Leverkühn nachträglich unters Publikum. Politik, Literatur, Lifestyle, gesellschaftliches Leben, historisch umstürzende Ereignisse, persönliche Anhängerschaften und Aversionen – all das schildert Ross als Kaleidoskop vielfältiger Stimmen und Zeugnisse, in dessen Mitte er das musikalische Werk setzt. Als eine Stimme unter vielen, die selbst Zeitgeschichte schreibt und in der sich Zeitgeschichte spiegeln lässt.
Schon beim Lesen des Bestsellers ist diese zugleich umfassende wie pointierte Sichtweise sehr vergnüglich. Das spitzt die Bühnenfassung in der Regie von Intendant Johan Simons (Text: Julia Lochte, Tobias Staab) gerne noch weiter zu: Wenn der melancholisch-sich-selbst-zerfleischende Gustav Mahler (Wolfgang Pregler) und der bayerisch-bodenständige Richard Strauss (Stefan Merki) nebeneinander sitzend sich unter den spitzen Kommentaren Alma Mahler-Werfels winden, ist das Theater pur. Ohne dass außer Mimik und Haltung viel vonnöten wäre. Schon bei Ross ist Musik zunächst eine von Menschen gemachte und von Menschen rezipierte Ausdrucksform. Hier menschelt es nun ganz gewaltig.
Das ist durchaus erhellend, gerade wenn sich wie bei Mahler und Strauss persönliche Freundschaft und künstlerische Antipodenschaft überlagern. Und es ist ein Fest, zusammen mit den Schauspielern am Pariser „Sacre“-Urauffühungsskandal 1913 quasi vor und hinter den Kulissen zugleich teilzunehmen. Hier holt die Lesefassung zu Recht weit aus und mischt schillernde Berichte von Diaghilew, Strawinsky (ganz cool: Steven Scharf), Nijinski (ganz emphatisch: Kristof Van Boven) mit Pressestimmen und höchst amüsanten Zuschauerkommentaren eines Harry Graf Kessler, Jean Cocteau, Claude Debussy oder einer Gertrude Stein. Angesichts einer kurzen Filmeinspielung des Balletts reibt sich das Publikum umso verwunderter die Augen: Ging es hier wirklich um einen Kunstskandal oder wurden womöglich ganz andere gesellschaftliche Kämpfe ausgefochten?
Offensichtlich schwieriger wird die Methode, wenn einzelne Komponisten auf wenige Anekdoten reduziert und typisiert in Erscheinung treten. Am härtesten trifft es Schoenberg (Stefan Hunstein) und mehr noch seine beiden Schüler Berg und Webern. Kommen sie schon bei Ross denkbar schlecht weg, werden sie hier vollends als „böse atonale Buben“ der Lächerlichkeit preisgegeben. Das ist ja per se legitim, trübt dann aber das unbefangene Hören ihrer genialen Musik. Wenn etwa Schoenbergs Präludium aus der Klaviersuite op. 25 im Nachhall der verbissenen Komponistenworte „Ich hoffe, ich werde missverstanden!“ anhebt, so ist man durch den unsympathischen Sonderling ziemlich von der zarten Sachlichkeit der Klänge, die ja gar nicht so schwer zu verstehen sind, abgelenkt.
Wermutstropfen blieb denn auch, dass die Musik an diesem Abend zwar zu Wort, aber doch immer noch recht sparsam zu Gehör kam, Immer wenn insbesondere Sachiko Hara am Flügel oder auch der Klarinettist Heinz Friedl (wunderbar: Bergs Vier Stücke op. 5) ihre Instrumente anstimmen, blieb die Zeit für einen Moment stehen. Dann war zu spüren, dass Musik eben doch nicht nur irgendeine Stimme ist, sondern eine viel tiefergehende, zeitlose Sprache, spricht. Da hätte man gerne doch noch mehr Zusammenhängendes (auch Symphonisches) oder schlüssig Gegeneinandergesetztes mitgenommen als lediglich ein paar wohlbekannte Takte aus „Wozzeck“ oder „Salome“.
Sehens- und Hörenswert! Die nächsten beiden Etappen zeigen die Kammerspiele am 30.1.2014 sowie am 26.3.2014.
Christine Mannhardt