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MÜNCHEN/ Bayerische Staatsoper: SEMIRAMIDE – Neuinszenierung

16.02.2017 | Oper

MÜNCHEN: SEMIRAMIDE – Neuinszenierung
am 15.2. 2017 (Werner Häußner)

Man sitzt im Münchner Nationaltheater in Gioacchino Rossinis „Semiramide“ und harrt. Wartet darauf, dass in der Inszenierung von David Alden ein Hinweis auftauchen würde, warum diese Vier-Stunden-Oper einem Publikum von heute vorgeführt werden müsste. Was der amerikanische Regisseur in dem aus Voltaires „Semiramis“ entwickelten Libretto Gaetano Rossis für erzählenswert fände. Man stößt auf sauber aufgereihte Choristen, auf weiß leuchtende Inder, die in kostbaren, edelsteinbesetzten Gewändern des Kostümbildners Buki Shiff eine Art Tempeltanzfiguren imitieren, auf geheimnisvolle gesichtslose Turbanträger, auf eine Kolossalstatue nach realsozialistischer Manier und auf ein kleines Kind, das sich hinter einer Couch hervorwälzt.

Worauf man nicht stößt, ist ein Konzept. Oder wenigstens eine Idee, was diese monumentale Oper Rossinis uns heute sagen könnte. Herrliche Musik, sicher. Grandiose Gesangspartien. Atemberaubender Ausdruck. Während man szenische Nichtigkeiten an sich vorüberziehen lässt, erinnert man sich, dass mit David Aldens bejubelten Händel-Inszenierungen unter der Ägide von Sir Peter Jonas in den neunziger Jahren die Spaßgesellschaft die Nationaltheaterbühne gekapert hat. Dass Alden 2013 in Hamburg drei Verdi-Raritäten in eine ähnliche szenische Unentschiedenheit abrutschen ließ. Und dass er im letzten Herbst in Berlin Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ als dekoratives Stehtheater arrangiert und von Brisanz gründlich desinfiziert hat.

Im Programmheft ist nachzulesen, welche Themen eine nachhaltige Regie hätte szenisch beglaubigen können: Daniel Menne nennt in seinem Beitrag die Utopie der Überwindung von Rache durch Vergebung – nicht nur ein voltairianischer Gedanke, sondern ein genuin christliches Konzept. Arsace kehrt auf Geheiß der Königin Semiramide nach Babylon zurück. Er weiß nicht, dass er der Sohn des ermordeten Königs ist; er weiß nicht, dass Semiramide seine Mutter und die Mörderin seines Vaters ist. Als ihm der Priester Oroe die Geschichte und seine Identität enthüllt hat, verzichtet Arsace auf die Rache an seiner Mutter, will den Kreislauf von Tat und Vergeltung durchbrechen. Sabine Henze-Döhring verweist auf die Intention Voltaires, Königen zu zeigen, dass die Götter selbst ihre Freveltaten bestrafen. So findet sich in „Semiramide“ ein für Rossinis Opernschaffen ungewöhnliches Gewicht der transzendenten Mächte, musikalisch packend herausgearbeitet im Finale des ersten Akts: Ein Blitz beantwortet Semiramis‘ Ankündigung, Arsace – ihren nicht erkannten Sohn – zum Gatten zu nehmen und zum König zu machen. Das Tempelfeuer erlischt, die Grundmauern beben, ein Geist erscheint – es ist der Schatten des ermordeten Königs Nino.

Fortan wird nichts mehr so sein wie bisher, Semiramide und Assur, die beiden Komplizen des Königsmords, werden von er Erinnerung an ihre Tat und von Angst vor einer ungewissen, von den Göttern bestimmten Zukunft getrieben. Die seelischen Erschütterungen erinnern an Shakespeare, in Rossinis musikalischer Sprache zeichnet sich der Weg zu Verdis „Macbeth“ ab. Die Existenz der Menschen auf der Bühne gerät aus allen Fugen, Assur stürzt in Wahnsinn. In der Tat eine Vorlage, die Grundfragen nach Schuld und Schicksal stellt, die nach psychologischer Vertiefung und Feinzeichnung ruft. Alden begnügt sich mit vordergründig bunten Videos von Robert Pflanz, mit dekorativen Gängen in einem Saal mit verschiebbaren Wänden (Bühne: Paul Steinberg) und mit szenischen Requisiten wie ein silbernes Bett im Stil von neureichem Kitsch. Requisiten, die zu allem Überfluss in Momenten höchster Konzentration herein- und herausgerollt werden.

Szenisch also hat die Bayerische Staatsoper nach „Guillaume Tell“ des Opernneulings Antú Romero Nunes vor drei Jahren in Sachen Rossini nun einen weiteren Misserfolg wegzustecken. Musikalisch sieht die Bilanz positiver aus: Mit Michele Mariotti – zum ersten Mal an der Bayerischen Staatsoper – steht ein Dirigent am Pult, der sich in den letzten Jahren mit Rossini einen bemerkenswerten Ruf erworben hat. Dem wird er in „Semiramide“ weitgehend gerecht. Denn er ziseliert nicht nur die nadelfeinen Staccati und die flinken Folgen kurzer Noten aus, sondern gibt auch dem lichten Pathos und den romantischen Klängen Gewicht, die Rossini mit Giovanni Simone Mayr verbinden und die er mit seinen neapolitanischen Opern experimentell erkundet hat. Mariotti macht klar, dass Rossinis italienisches Resümee – „Semiramide“ war seine letzte Oper für Italien vor seinem Karrieresprung nach Paris – Maßstäbe für die junge Generation eines Donizetti, Mercadante und Verdi gesetzt hat. Das Bayerische Staatsorchester klingt beweglich und durchsichtig, die Detailarbeit ist – bis hinein in die enthobenen Pizzicati des Duetts „Giorno d’orror! E di contento“ im zweiten Akt – voller Finesse. Allenfalls die Phrasierung könnte manchmal entschiedener, die Flexibilität der Tempi vielfältiger sein.

Für „Semiramide“ sind erstklassige Sänger notwendig – und das betrifft nicht nur die technische Perfektion, sondern auch die vokale Gestaltungskraft, mit Klang, Farbe und Dynamik der Stimme seelische Extremzustände darzustellen und, wie Rossini selbst forderte, das Innere zu rühren. Joyce diDonato, heute eine der führenden Interpretinnen von Belcanto-Partien, demonstriert, wie das zu verstehen ist: Sie verlässt sich nicht alleine auf einen gleichmäßigen, marmorn schimmernden Klang, auf die vollendete Formung der Töne, auf den tragenden Atem. Sondern sie will die Seelenzustände Semiramides klanglich ausdrücken: die anfängliche Selbstgewissheit, die Sehnsucht nach der Liebe Arsaces, die fundamentale Erschütterung ihres Selbst durch den Eingriff transzendenter Mächte, das psychologische Kammerspiel der Auseinandersetzung mit ihrem Komplizen Assur. Stilistisch bleibt DiDonato im Ambitus belcantesker Mittel, greift nie zu der scheinbar wirkungsvolleren Expressivität des Singens, wie es noch zu Rossinis Lebzeiten – und zu seinem Missfallen – sich durchgesetzt hat. So ist die wohl bekannteste Nummer ihrer Partie, die Cavatina „Bel raggio lusinghier“ kein brillantes Koloraturen-Schaustück, sondern ein befreiter Ausbruch der Seele aus einem lang verschlossenen inneren Gefängnis von Schrecken, Schmerz und Sehnsucht.

Joyce DiDonato zur Seite steht Daniela Barcellona als Arsace. Ihr fulminanter Auftritt „Eccomi alfine in Babilonia“ lässt ebenfalls die Sehnsucht und die Hoffnung spüren, das Leben könnte sich endlich in Glück und Liebe erfüllen. Diesen Sinn gibt Barcellona ihren verzierten Singen, ihrem differenzierenden Ton in den Rezitativen. Sie macht auch die inneren Erschütterungen glaubhaft, die Arsace an den Rand des Suizids treiben. Stimmlich fällt auf, dass die Sängerin Koloraturen nicht immer sauber auf einem tragenden Atem bildet, sondern quasi mit dem Vibrato in die Stimme drückt – eine Methode, die das Relief der Gesangslinie immer wieder verunklart. Auch in elegischen, weit ausschwingenden Linien wirkt der Ton nicht ruhig und gleichmäßig geformt.

Für den Bass schrieb Rossini eine Paraderolle – und das ebenfalls nicht nur die technischen Anforderungen betreffend: Assur ist ein Politiker mit langem Atem. Er wartet jahrelang geduldig auf seine Chance und will sie, als Semiramide einen neuen Gatten und damit einen neuen König für Babylon wählen soll, entschieden nutzen. Ein Recht, das er sich verdient zu haben glaubt, weil er ihr beim Königsmord und in den fünfzehn Jahren seither die Gefolgschaft bewahrt hat. Die Entscheidung Semiramides erschüttert ihn zutiefst, er fühlt sich zurückgesetzt, entschließt sich zur Rache. Schuldgefühle und die Schatten der Vergangenheit treiben ihn in einen wahnhaften Zustand mit der Vision einer aus dem Jenseits kommenden Vergeltung; eine Szene, die auf den an seiner Wahrnehmung fast verzweifelnden Macbeth in Verdis Meisterwerk vorausweist.

Alex Esposito, obwohl kein „basso cantante“ mit flexibel-sonorem Ton, bemüht sich mit bisweilen harter Stimme um eine psychologisch stringente Gestaltung, ist aber von der Regie ziemlich alleine gelassen: Er macht aus einem geduldigen Strategen der Macht einen Choleriker in der Operettenuniform nordkoreanischer Generäle. Was für dramatisches Potenzial seine Rolle hat, zeigt er im zweiten Akt, wenn sich Assur und Semiramide, ruhelos getrieben von der Vergangenheit, mit gegenseitigen Vorwürfen umkreisen und er schließlich wie ein dämonischer Incubus den Körper der Frau behockt. Mit steigendem Pegel des Wahnsinns greift Esposito dann zu veristischen Mitteln der Deklamation statt zu dramatischer Erfüllung der Musik.

Alles, was sich um diese Sänger-Trias gruppiert, bleibt auf Nebenfunktionen beschränkt oder hat dramaturgisch keine Bedeutung wie das Paar Idreno – Azema. Letztere ist das Ziel erotischer Sehnsüchte dreier Männer; Elsa Benoit stellt sie als passives Objekt dar, mumienhaft und kahlköpfig, wie eine Statue herein- und hinausgetragen, eingewickelt in goldenes Tuch mit überlangen, an eine Zwangsjacke erinnernden Ärmeln. Der andere, Idreno, ist ein Lieferant bezaubernder Arien, die der Tenor Lawrence Brownlee, so man sie ihm nicht gestrichen hat, mit betörender Leichtigkeit in den Raum projiziert. Allein wegen dieser Musik wäre es schade, die Figur zu eliminieren, obwohl es den Gang der Handlung konzentrieren würde. Mit wenigen bedeutungsvollen Sätzen meldet sich Simone Alberghini als Oroe zu Wort. Igor Tsarkov kleidet die fatalen Sätze des Geistes in ein düsteres Timbre. Galeano Salas kann als Mitrane in ein paar Takten wenigstens auf eine schöne Stimme aufmerksam machen. Im Blick auf den 150. Todestag des Komponisten im Jahr 2018 ist zu hoffen, dass München mit seinem erstrangigen musikalischen Potenzial an Rossinis noch längst nicht ausreichend wiederentdeckten Hauptwerken weiterhin Geschmack findet und – aller guten Dinge sind drei – mit der Regie endlich einmal Glück hat. Das Publikum lässt sich offenbar bereitwillig darauf ein: Die Vorstellungs-Serie ist ausverkauft; während der Opernfestspiele gibt es „Semiramide“ noch zwei Mal, am 21. und 24. Juli 2017.

Werner Häußner

 

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