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MOZART: COSÌ FAN TUTTE – Anne Teresa De Keersmaeker Palais Garnier 2017 Überzeugendes Konzept: Getanzte Algorithmen der Leidenschaft zwischen Mann und Frau – ARTHAUS Musik Blu-Ray

MOZART: COSÌ FAN TUTTE – Anne Teresa De Keersmaeker Palais Garnier 2017

Überzeugendes Konzept: Getanzte Algorithmen der Leidenschaft zwischen Mann und Frau – ARTHAUS Musik Blu-Ray

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Auf einer neuen Blu-Ray kann jetzt die vorstellbar aufregendste, originellste und ganz auf die Beziehung der Personen zueinander in Szene gesetzte Così fan tutte bestaunt werden. Choreographin und Regisseurin Anne Teresa De Keermaeker und ihr Set-Designer Jan Versweyveld schufen eine geometrische Versuchsanordnung auf leerer weißer Bühne. Pentagramme, Kreise und Spiralen sind am weiß lackierten Boden sichtbar. In diesem abstrakten Labor der Liebenden findet ein symmetrisches Spiel zwischen Verbindung und Auflösung, Anziehung und Abstoßung statt. Diese Szene ist prädestiniert, um die etablierte Ordnung zwischen Mann und Frau in Zeiten grundlegenden gesellschaftlichen Wandels in Frage zustellen und auf Basis des Verstands (ganz im Sinne der Philosophie der Freimaurer) neu zu bewerten. De Keersmaeker konstatiert zutreffend, dass „die Musik noch viel weiter geht als die eigentlich Intrige. Selten drückt Musik mit einer solchen Farbvielfalt und Prägnanz die Beziehung zwischen Verlangen und Tod aus… Es ist die Musik, die bewirkt, das die augenscheinlich burleske Banalität der Komödie die Betrachtungsweise ändert, geprägt von sehr melancholischen, fast religiösen Momenten“.

Rein aus dieser revolutionären Musik heraus entwickelt De Keersmaeker ein komplexes fluoreszierendes Bewegungsspiel zwischen unseren sechs Protagonisten und deren tänzerischen Doppelgängern. Der dezente Einsatz von Farbe in den einfachen aber wirkungsvollen Kostümen von An D‘Huys visualisiert zusätzlich das mathematisch choreographierte Beziehungsgeflecht. Ebenso spielen Blicke eine große Rolle in dieser Inszenierung, bei oftmals sparsamen Bewegungen der Hände und Arme sind sie es, die Emotion und Raum miteinander in Spannung setzen.

Zu Beginn des ersten Aktes – alle in schwarz gewandet – beschränkt sich der Bewegungskanon noch auf dezent unisono Chorisches, zuerst nur variiert, indem die Personen in immer größeren Abständen voneinander driften dürfen. Farbe kommt erst ins Spiel, als die beiden Männer zur Prüfung der Treue ihrer Verlobten scheinbar per Schiff in den Krieg ziehen. Musikalische und optische Höhepunkte markieren das Quintett „Di scrivermi ogni giorno“ und das Terzett „Soave sia lil vento“. Alle wissen in diesen Augenblicken, nichts wird wieder so sein, wie es einmal war. Wie hier Unruhe und Sorge, Angst vor Künftigem und dennoch das schicksalhafte Überlassen des Weiteren den Stürmen seelischer Tiefseebeben in theatralischen Ausdruck gegossen wird, ist ereignishaft. Später wird ja die Erkundung zur Bereitschaft zu sexueller Freiheit auch von den Frauen getestet. Zuerst von Dorabella, dann zögerlich von Fiordiligi, stets mit der Alfonsos Intrige stärkenden, mit allen Wassern gewaschenen Despina als Katalysatorin und diabolischer Kupplerin.

Zur Umsetzung der klugen, optisch kurzweiligen und ästhetisch einzigartig schönen Versuchsanordnung steht der Opéra national de Paris ein homogenes, hervorragendes junges, auch optisch in jeder Hinsicht ansprechendes Sänger- und Tanzensemble zur Verfügung. Rein gesanglich haben die beiden männlichen Protagonisten allen anderen eine Nasenlänge voraus: Frédéric Antoun als Ferrando und Philippe Sly als Guglielmo rufen goldene Mozart-Zeiten in Wien/Salzburg der 50-er und 60-er Jahre wach. Antoun (expressiv auch sein Double Julien Monty) singt seine berühmte Arie „Un‘aura amorosa“ mit beispielhaften Legato, schwebenden Piani und  das bei markant dunkel virilem Timbre. Für den Guglielmo bringt Philippe Sly einen edel timbrierten Kavaliersbariton mit. Eine klare Diktion, berückende Stimmfarben und stimmliche Wandlungsfähigkeit machen aus diesem Sänger einen ganz große Hoffnung für die Zukunft. Außerdem ist er ein begnadeter Darsteller. Paulo Szot stellt einen vom Alter her noch knackigen Alfonso auf die Bühne, hochmusikalisch, aber für den „negativen Moralisten“ wirkt er zu harmlos in Auftreten und zu wenig scharf in der Artikulation. Das alles hat sein weibliches Pendant Despina, die quicklebendige und augenrollende Ginger Costa-Jackson hingegen im Übermaß. Ganz wunderbar, wie sie in ihrer Arie im ersten Akt „In uomini, in soldati sperare fedeltà“ in einen inneren Monolog mit ihrem Schatten (Marie Goudot) tritt. Jacquelyn Wagner als Fiordiligi und Michèle Losier als Fiordiligi und Dorabella dürfen instrumental geführte Stimmen mit exquisiten Farben ihr eigen nennen. Frau Wagner müsste allerdings in der Höhe freier und fließender werden und Madame Losier vokal weniger neutral agieren, dann wäre viel gewonnen. Beiden gelingen jedoch in Symbiose mit den kongenialen Tänzerinnen Cynthia Loemij und Samantha van Wissen berührende Porträts der beiden Frauen im Strudel ihrer entwurzelnden Liebeserfahrungen.

Das Orchester der Pariser Oper hat von Philippe Jordan gelernt, einen idiomatisch modernen Mozart abseits aller rein intellektuellen Fragen rund um Originalklang zu spielen. Die schräge Opera Buffa kommt bei dem designierten Musikdirektor der Wiener Staatsoper ebenso zu ihrem Recht wie der melancholische Unterton bzw. die Momente der Stille, wie Jordan dies nennt. Der Chor der Pariser Oper (Einstudierung Alessandro Di Stefano) hat allerdings schon bessere Zeiten gesehen, besonders die Damen singen zu unruhig und vibratoreich.

Ob Mozart als Freimauerer davon überzeugt war, dass der Mensch wirklich glücklich wird, wenn er all sein Vertrauen in die Vernunft steckt, wird im Booklet hinterfragt? Das darf angesichts der Musik im zweiten Akt und des Ausgangs dieser Schwarzen Komödie zumindest stark bezweifelt werden. Laut De Keersmaeker lautet die eigentliche moralische Lektion, der wir uns ohne Einschränkungen anschließen wollen, so: „Ja, es tut weh, ja, die Liebe ist kompliziert, beunruhigend, entwurzelnd, aber niemand kann etwas dafür.“

Fazit: Eine kühne, ästhetisch anspruchsvolle Inszenierung mit ebenso wunderbaren Sängerleistungen, getragen von dem für Mozarts intimstes Stück prädestinierten Philippe Jordan. Als eine der wenigen unter (sehr) vielen Opernverfilmungen wartet die neue DVD auch mit einer höchst gelungenen perspektivenreichen Umsetzung in einer flotten Schnittregie aus Einzel- Gruppen- und Gesamtansichten auf.  Die Dynamik des Tanzes übersetzt als Kadenzgeber das Tempo der Cuts. Endlich wieder einmal eine auch visuell künstlerische geglückte Adaption auf Augenhöhe mit der Inszenierung. Tipp: Ansehen und sich auf dieses rare Opernabenteuer einlassen!

 Dr. Ingobert Waltenberger