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MAINZ/Staatstheater: 2. SINFONIEKONZERT – Das freie Spiel der Töne in schwieriger Zeit

14.11.2016 | Konzert/Liederabende

Mainz: 2. SINFONIEKONZERT – Das freie Spiel der Töne in schwieriger Zeit

 Mainz, Staatstheater: 11.11.2016

Bei aller Heiterkeit und Leichtigkeit, die immer wieder aus der Musik der Wiener Klassik zu uns spricht, dürfen wir nicht übersehen, dass ein Großteil davon einer ausgesprochen unruhigen Zeit entstammt. 1789 brach in Frankreich die Revolution, am 10.7.1790 wurden dort die Adelstitel abgeschafft, und während sich die allmähliche Entmachtung des französischen Königs Ludwig XVI. abzeichnete, waren Kaiser Joseph II. und sein Nachfolger Leopold II. nicht nur mit einem Krieg gegen die Türken, sondern auch mit Aufständen in den österreichischen Niederlanden und im Fürstbistum Lüttich beschäftigt. Das war die Situation, in der Joseph Haydn Ende 1790 seine erste Reise nach London antrat. Erst mit dem Wiener Kongress, ein Vierteljahrhundert später, sollte Europa wieder zur Ruhe kommen.

Clemens Schuldt, im zweiten Jahr ständiger Gastdirigent („Conductor-in-Residence“) des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz, stellte Haydns Sinfonie Nr. 93 in D-Dur an den Anfang des 2. Sinfoniekonzerts im Großen Haus des Staatstheaters. Zwei kräftige Fortissimo-Schläge von Pauken und Bläsern eröffnen den ersten Satz; die Streicher antworten im Piano mit einer eleganten, gesanglichen Zweitaktfigur. Sehr konsequent, und sehr durchsichtig in Klang und Stimmführung entfaltet Schuldt aus diesem Kontrast die weitere Entwicklung der Sinfonie. Je beweglicher sich die Streicher zeigen, desto starrer wirken die immer wieder hineinbrechenden Fanfaren. Gehen die einen mutig und fantasievoll auf Entdeckungsreise im Quintenzirkel, so beharren die anderen stur und statisch auf der Ausgangstonart. Im 2. Satz überrascht zunächst ein zartes solistisches Streichquartett, dann eine mächtige, barockisierende Passage mit Anklängen an die französische Ouvertüre und gegen Ende eine militärisch dröhnende Variante, nach der Haydn den Abgang des Themas in immer kleinere Partikel zerlegt. Auf die eintretende Generalpause folgt ein lautes, flatulenzartiges tiefes C im Fagott – ein grotesker Effekt und wesentlich gröberer Scherz als der Paukenschlag in der gleichnamigen Sinfonie! Doch das massive Orchestertutti setzt wieder ein, als ob nichts gewesen wäre.

Das Menuett erinnert eher an einen derben Zwiefachen, während die eleganten Anwandlungen des Trios immer wieder von Bläsern und Pauken erstickt werden. Erst im geistreichen Finale befreit sich das Orchester von dieser Bevormundung; Komponist und Dirigent geben dem musikalischen Einfallsreichtum freie Bahn. Hier erinnerten die abschließenden Fanfaren schon den Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar (1848 -1924) an die Ausrufe „Viva la libertà“ im Finale des 1. Aktes von Mozarts „Don Giovanni“, in denen man das Wetterleuchten kommender Erschütterungen ahnen konnte. So darf man wohl auch in dieser Haydn-Sinfonie einen ironischen Reflex auf die damaligen gesellschaftlichen und kriegerischen Spannungen sehen, und außerdem natürlich eine Reverenz des Komponisten vor seinem fortschrittlichen Londoner Publikum, das mit den unterschiedlichen Nuancen musikalischen Witzes etwas anzufangen wusste. Tatsächlich ist diese Sinfonie – entgegen der Nummerierung – die letzte der ersten Londoner Serie, so dass Haydn ziemlich genau wusste, was er sich erlauben konnte. Das Publikum durfte sich über das freie Spiel der Töne freuen, über Haydns musikalische Späße lachen und sich eine Weile enthoben fühlen vom bedrohlichen Weltgeschehen. – Völlig neu ist Schuldts Sicht auf das Stück übrigens nicht; einen ähnlichen Ansatz hat auch schon Frans Brüggen mit dem Orchestra of the Eighteenth Century verfolgt. Doch mit einer solchen Interpretation ins Abonnementskonzert einzusteigen und den unvorbereiteten Hörer vom ersten Takt an zu fesseln, dazu gehören Mut, Konsequenz und Können.

Von künstlerischer Courage zeugt auch das zweite Werk des Abends, ein selten gespieltes Stück der seit 1992 in Deutschland lebenden tatarisch-russischen Komponistin Sofia Gubaidulina (geb. 1931). „Concordanza“ für zehn Instrumente (jeweils ein einfacher Holzbläser- und Streichersatz, dazu Trompete und reich besetztes Schlagwerk) wurde 1971 in Prag uraufgeführt. Von seinem Wesen her, meinte Clemens Schuldt in seiner lebendigen Konzerteinführung, müsse das Werk eigentlich nicht „concordanza“ („Übereinstimmung“) heißen, sondern „concordanza e non-concordanza“ („… und Nicht-Übereinstimmung“). Vielleicht erschien es der Komponistin nach der offiziösen Kritik von 1962, wonach sie „die Kraft der hellen und erfreulichen Seiten des Lebens nicht genügend klar und unmittelbar darzustellen“ verstehe, unter dem damaligen Sowjet-Regime sicherer, im Titel das Positive herauszustellen und die Erfahrung der Nicht-Übereinstimmung dem Hörer zu überlassen. Beginnend mit einem geheimnisvollen Gemurmel von Holzbläsern und Streichern begibt sich die Kammerorchester-Besetzung auf eine Entdeckungsreise, in der markante melodische, harmonische und rhythmische Ideen immer wieder von Abweichungen, Reibungen und Kontrasten eingeholt und konterkariert werden. Schöne und bedrohliche Facetten wechseln sich ab. Der Verlauf ist eher assoziativ und sprunghaft als konsequent entwickelnd, und die größte Überraschung ist, dass die Musiker plötzlich anfangen, zusätzlich zum Spiel der Instrumente zu flüstern und zu zischeln – wie „böse Zungen“, deren Herkunft man nicht ermitteln kann, in einer von Angst und Denunziation bestimmten Gesellschaft. Die Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Staatsorchester nehmen die Prägnanz und Farbigkeit ihrer Haydn-Interpretation mit in dieses moderne Stück, und dem Dirigenten gelingt es mit ruhiger Hand ausgezeichnet, den Spannungsbogen zu führen.

 Robert Schumanns „Frühlingssinfonie“ im November anzusetzen, erscheint auf den ersten Blick gewagt. Aber ist es nicht gerade ein Vorzug der Kunst, die schnöde Realität verwandeln zu können? Schuldt verwies in der Einführung denn auch gleich darauf, dass das Werk im Januar des Jahres 1841 entstanden sein. Im Vergleich zu Brahms werde Schumanns sinfonisches Werk viel zu selten aufgeführt, meinte der 34-jährige Dirigent, der gerade die Position des Chefdirigenten beim Münchener Kammerorchester angetreten hat. Schumanns Musik dränge „nach oben, nach vorne“, erklärte er seinen Interpretationsansatz. Tatsächlich gerät das Aufblühen frühlingshafter Impulse aus winterlicher Düsternis im Eingangssatz auch ansprechend und spannend. Danach allerdings bleibt die Interpretation bei allem vorwärtsdrängenden Schwung eher an der Oberfläche. Zu stark orientiert sich Schuldt an den Oberstimmen und überspielt das subtile Geflecht der Unter- und Mittelstimmen und die innehaltenden Momente– so, als wolle er den Gang durch ein aufblühendes Tal touristisch abhaken, statt die einzelnen Knospen und Blüten links und rechts der Weges wahrzunehmen. – „Ich wünsche Ihnen ein erkenntnisreiches und genussreiches Konzert“, hatte er das Publikum aus der Einführung verabschiedet. (Nicht etwa mit „Gute Unterhaltung“!) Auch wenn man bei Schumann Abstriche machen musste, war es in dieser Hinsicht doch ein sehr lohnender Abend.

Andreas Hauff

 

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