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MAINZ: AUFREGENDES „BEETHOVEN-KONZERT ZUM TAG DER DEUTSCHEN EINHEIT“ MIT DEM MAINZER BACHCHOR

05.10.2016 | Konzert/Liederabende

Ein aufregendes Beethoven-Programm zum „Tag der Deutschen Einheit“ (3.10.2016) mit dem Mainzer Bachchor

 „Roll over Beethoven …?“hat der Mainzer Bachchor Einladung und Programm zu seinem Konzert am Tag der Deutschen Einheit (3.10.2016) überschrieben – in Anspielung auf den witzigen Erfolgstitel des Rock‘-Roll-Sängers Chuck Berry, der 1956 die neue Musik der Jugend über die von Beethoven und Tschaikowsky stellte. Wollten der Bachchor und sein Leiter Prof. Ralf Otto die graugewordenen Fans von einst mobilisieren? Oder sie vom Gegenteil überzeugen? Oder gar klar machen, dass Beethoven selbst „seinerzeit ein echter Rockn‘ Roller“ war, der „sein Ding gegen alle Widerstände durchzog“, wie es der Rock-Gitarrist Slash (langjähriges Mitglied der Band Guns N‘Roses) formuliert haben soll? So wie Otto das Programm mit Beethovens C-Dur Messe op. 86 begann, mit intensivem Auskosten der dynamischen Effekte und Akzente, schien er letzteres im Sinn gehabt zu haben. Es klang gerade so, als ob Beethoven selbst sich anschickte, das Publikum zu „überrollen“, und man begriff die irritierte Bemerkung des damaligen Auftraggebers Fürst Nikolaus II. von Esterházy:„Aber lieber Beethoven, was haben Sie denn da wieder gemacht?

Vielleicht war es Ottos Absicht, durch Zuspitzen der Kontraste Beethovens unkonventionellen Umgang mit dem liturgischen Text der lateinischen Messe herauszuarbeiten und den ästhetischen Schock der Uraufführung hörbar  zu machen. Nicht so recht nachvollziehbar war dennoch die Singweise des Solistenquartetts, das vom Tonsatz und der kompositorischen Idee her keinen Widerpart zum Chor bildet, sondern eine Vorsänger-Rolle wahrnimmt. Susanne Bernhard (Sopran), Gerhild Romberger (Alt), Dominik Wortig (Tenor) und Thomas E. Bauer (Bass) schwangen sich immer wieder schnell zu opernhafter Dramatik auf, und das mit sehr unterschiedlicher Stimmgebung. Einige solistische Instrumentalpassagen im Bachorchesterwiederum wirkten hier arg vorsichtig. Gut vorbereitet und sicher war zweifellos der Chor. Ich möchte einen Mangel an Probenzeit annehmen, denn in der Folge war von den Schwächen nichts mehr zu spüren.

 Beethovens Messe op. 86 mit seiner 8. Sinfonie op. 93 und der „Chorfantasie“op. 80 zu verbinden, ist eine ungewöhnliche Idee. Aber der „Tag der deutschen Einheit“, als Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung seit 1991 ein gesetzlicher Feiertag, ist auch ein ungewöhnlicher Anlass. Denn mit Ausnahme derjährlichen zentralen Feier in jeweils wechselnden Landeshauptstädten, die dieses Jahr unter unrühmlichen Begleiterscheinungen in Dresden begangen wurde, gibt es so recht keine Art und Weise, diesen Tag „feierlich“ zu begehen. Der Mainzer Bachchor hat sich in den letzten Jahren um dieses Vakuum verdient gemacht und in der Christuskirche immer wieder Programme präsentiert, die auch inhaltlich über den kirchlichen Rahmen hinausweisen – sozusagen an der Nahtstelle zwischen Kulturprotestantismus und Zivilreligion.

In diesem Jahr war die programmatische Herausforderung besonders groß: Neben dem Feiertag sollte auch das Jubiläum „200 Jahre Rheinhessen“ festlich begangen werden. Rheinhessen, das  Gebiet links des Rheinknies zwischen Worms, Mainz und Bingen, entstand nämlich als Ergebnis des Wiener Kongresses 1816 als Provinz des (ansonsten rechtsrheinischen) Großherzogtums Hessen (mit der Hauptstadt Darmstadt): Nach dem Sturz der Monarchie 1918 gehörte es zum Volksstaat Hessen, bevor es 1945 von den Besatzungsmächten abgetrennt und 1946 dem neu gegründeten Bundesland Rheinland-Pfalz zugeschlagen wurde, in dem es bis 1968 als Regierungsbezirk noch eine Schattenexistenz führte. Auswärts gilt „Rheinhessen“ nur noch als Weinanbaugebiet.

Nach innen gewinnt die Region, als deren typisch Eigenart Kenner eher das „Sich-Nicht-Festlegen auf eine Identität“ beschreiben, inzwischen an Profil. Dazu gehört auch die Rückbesinnung auf die französische Prägung: Erst die Gründung der Mainzer Republik 1793, dann die Zugehörigkeit zum französischen Departement Donnersberg bis 1814 und die daraus resultierende fortschrittliche Zivil- und Justizverfassung, die auch unter dem hessischen Großherzog in Kraft blieb und für bürgerliches Selbstbewusstsein sorgte. Dazu passe Beethovens Verbundenheit mit den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausgezeichnet, sagte Prof. Otto in einer kurzen Ansprache ans Publikum –  Idealen, die im übrigen für die Gesellschaft insgesamt derzeit so wichtiger seien denn je. Der Dirigent berichtete, das Bach-Orchester habe sich in das historische Instrumentarium der Beethoven-Zeit  eingearbeitet, und auch der Solist der „Chorfantasie“ spiele auf einem Hammerflügel aus dem Jahr 1825. Otto warnte das Publikum vor ungewohnten Klangeindrücken: Bei der 8. Sinfonie halte er sich an die von Beethoven vorgegebenen raschen Tempi.

Das tat er denn auch, und kam mit historischem Instrumentarium und historisch informiertem Zugriff zu einem ähnlichen Ergebnis wie vor Jahren schon das HR-Sinfonieorchester unter seinem damaligen Chefdirigenten Hugh Wolff in Frankfurt – ein wenig flotter vielleicht noch, im Menuett noch etwas schroffer, aber nicht weniger überzeugend in Präzision, Elan und Spielwitz. Das Menuett hatte vorher schon der Musikwissenschaftler Norbert Bolin in seinem Einführungsvortrag als ironischen Affront charakterisiert: Eigentlich ein höfischer Tanz, aber hier komponiert wie für holzschuhtragende Bauern. Ansonsten herrscht in dieser Sinfonie aber das lustvolle Spiel mit der Musik an sich vor: Unerwartete Fortsetzungen, überraschende Gegensätze, überhaupt eine Art Jonglieren mit dem musikalischen Material. Bei den witzigen Effekten verzog leider, so weit ich sehen konnte, kaum jemand die Miene. So groß ist dann, trotz Chuck Berry (und aller, die nach ihm diesen Hit sangen), der andächtige Respekt vor Beethoven noch, dass man sich nicht traut, im Konzert über seine musikalischen Witze zu lachen.

Spannend war natürlich die Bandbreite dieses Programms: Auf der einen Seite die individuelle Auseinandersetzung mit der kirchlichen Liturgie in der Messe, andererseits das freie, souveräne, heitere Spiel der Kräfte in der Sinfonie – und dann die Botschaft der „Chorfantasie“. Sie gilt in vieler Hinsicht als Etappe auf dem Weg zur 9. Sinfonie. Dass sie aber mehr ist als das, war in der Christuskirche deutlich zu spüren. Da beginnt erst der Solist zu präludieren und zu fantasieren, als ob er alleine auf der Welt wäre – versunken in sich und sein Instrument, in die Welt der Tasten und Töne. Tobias Koch gestaltete das mit einer ganz selbstverständlich und organisch wirkenden Virtuosität auf einem obertonreichen, silbrig klingenden Hammerflügel aus der Werkstatt des Wiener Klavierbauers Conrad Graf (1782-1851).

Und dann kommt der Moment, wo dieser Solist wahrnimmt, dass neben ihm ein ganzes Orchester sitzt. Laut Partitur gibt er dem Dirigenten ein Zeichen, und eine energisch aufsteigende Linie der tiefen Streicher leitet eine kurze Phase des Suchens ein. Sie mündet in einen mehrfach wiederholten Hornruf, eine Art „Fanfare im Wartestand“. Der Pianist nimmt sie auf und entwickelt daraus das eigentliche Thema, das in der Folge mehrfach variiert wird. Der Virtuose am Piano ist sich nun nicht zu schade, mit wenig mehr als zwei schlichten Akkorden ein Flötensolo wie in einer Sonate zu begleiten. (Was  Koch ganz wach und bewusst macht.) Und während er weiter mit dem Orchester dialogisiert, erscheinen auch Streichquartett und Harmoniemusik als beliebte Formen adeligen und bürgerlichen Musizierens. Schließlich folgt ein Wink an den Chor, und das Stück weitet sich zur Kantate – erst getragen von 6 Solisten, dann vom ganzen Chor – als Apotheose gemeinsamen Musizierens. (Zwei ungenannte Solisten aus dem Chor ergänzten das Vokalquartett der Messe hier zum wirklich homogen wirkenden Sextett.)

 „Nehmt denn hin, ihr schönen Seelen froh die Gaben schöner Kunst. Wenn sich Lieb‘ und Kraft vermählen, lohnt dem Menschen Göttergunst,“ lautet die letzte Strophe, und Beethoven hebt dabei die „Kraft“ noch durch eine plötzliche Rückung nach Es-Dur hervor. Neu und aufregend an der „Chorfantasie“ ist nicht die damals durchaus übliche Mischung der Besetzung vom Solo-Rezital über die Kammermusik bis zu Sinfonie und Kantate an einem Abend, sondern die programmatische Einbindung des Einzelnen und der verschiedenen Gruppierungen innerhalb eines Werkes ins große Ganze. Was für ein Symbol zum Tag der Deutschen Einheit!

Eine kleine Nachbemerkung zum Einführungsvortrag: Norbert Bolin ist es mit Sachverstand und Engagement gelungen, Neugier auf die Aufführung zu wecken und die Ohren aufzuschließen. Nicht einverstanden bin ich aber mit seiner Aussage, die Sinfonien und Sonaten von Haydn und Mozart folgten einem kodifizierten Grundmodell, von dem nun Beethoven sich endlich absetze. Und nirgendwo sagt Beethoven oder einer seiner Zeitgenossen, ein Satz stehe „offiziell in der Sonatenhauptsatzform“; derlei ist bestenfalls eine Rückprojektion aus dem 19. oder 20. Jahrhundert, schlimmstenfalls totes Schulbuch-“Wissen“, das von der wirklichen Musik nicht viel übrig lässt. Von daher hat mich auch Bolins Plädoyer für Beethoven als „Romantiker“ wenig überzeugt. Dass aber an seiner Ansicht doch „etwas dran“ ist, zeigte mir dann ein kleines Detail der C-Dur-Messe, das Ralf Otto deutlich herausbrachte: Während der Chorsatz schon auf „pacem“ („Frieden“) zur Ruhe gekommen ist, erscheint als letztes musikalisches Motiv ein sehnsüchtiger – „romantischer“ – Hornruf.

 Andreas Hauff

 

 

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