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LÜTTICH/ Opéra Royal de Wallonie: GUILLAUME TELL von André-Modeste Grétry

16.06.2013 | KRITIKEN, Oper

Wiederentdeckung in Lüttich: „Guillaume Tell“ von André-Modeste Grétry (Vorstellung : 15. 6. 2013)

 
Marc Laho in der Titelrolle des kämpferischen Wilhelm Tell (Foto: Opéra Royal de Wallonie)

Während in vielen Ländern der 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi und Richard Wagner mit Neuinszenierungen ihrer berühmtesten Werke gefeiert wird, gedenkt Lüttich des 200. Todestages von André-Modeste Grétry, des bedeutendsten Komponisten der Stadt, dessen imposantes Denkmal vor der Opéra Royal de Wallonie steht, mit der belgischen Erstaufführung seines fast in Vergessenheit geratenen Werks „Guillaume Tell“.

 Grétry wurde am 11. 2. 1741 in Lüttich geboren und starb am 24. 9. 1813 in Paris. Als Knabe war er ein begehrter Sopransänger in den Kirchen seiner Heimatstadt, studierte von 1761 bis 1765 in Rom und ließ sich auf Empfehlung Voltaires 1767 in Paris nieder, wo er bald erste Erfolge verzeichnete. Bis 1803 kamen etwa 50 Werke von ihm auf Pariser Bühnen zur Aufführung. Unberührt von den damaligen ausufernden Streitigkeiten der Gluck- und Piccinni-Anhänger, wurde Grétry vom Publikum gefeiert. Sein Opernballett „La caravane du Caire“ war einer der größten Erfolge in der Geschichte der Oper, aber auch sein 1791 komponierter „Guillaume Tell“, eine „Freiheitsoper“, mit der Grétry die Ideale der Französischen Revolution hochhielt. Dieses Werk war besonders erfolgreich und wurde erst von Rossinis gleichnamiger Oper verdrängt, die 1829 in Paris uraufgeführt wurde. Grétrys Werk wurde zwar noch in der Schweiz einige Male aufgeführt, geriet aber sonst in Vergessenheit.

 Stefano Mazzonis di Pralafera, der Intendant des Lütticher Opernhauses, inszenierte die Oper, deren Libretto von Michel-Jean Sedaine nach Antoine-Marie Lemierre verfasst wurde, zwar sehr bühnenwirksam, übertrieb aber des Öfteren den Humor, der gefährlich in billigen Klamauk abzudriften drohte. Dass er die Darsteller bei den gesprochenen Texten die Schweizer Redeweise imitieren ließ, war nicht witzig, sondern eher geschmacklos und passte auch nicht zu diesem historischen Werk. Andererseits begeisterte er mit guten Ideen das Publikum, beispielsweise mit Tells Apfelschuss. Der Regisseur teilte die dreiaktige Oper in zwei Teilen, wobei der erste mit Gesslers Befehl an Tell, den Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen, endet. Der zweite Teil beginnt mit dem Schuss Tells – und der Pfeil fliegt, grell beleuchtet, im Zeitlupentempo zu seinem Ziel. Unter dem Beifall des Publikums trifft er den Apfel! Ebenso humorvoll inszeniert war der Kampf der Schweizer gegen Gesslers Schergen, der mit hölzernen Marionetten-Soldaten ausgetragen wurde.

 Publikumswirksam auch die Szene nach dem tödlichen Pfeilschuss Tells für Gessler. Als das Lied der Freiheit von den fahnenschwingenden Schweizern angestimmt wurde, brandete spontan Jubel und Applaus bei einem Teil des Publikums auf, was von allen Zuschauern, die um mich herum saßen, mit Kopfschütteln registriert wurde. Der politische Kampf der Flamen gegen die Wallonen hat also bereits die Oper erreicht…

 Stimmungsvoll waren die Dekorationen von Jean-Guy Lecat, der die Bergwelt der Schweiz trickreich auf die Bühne zauberte, und die recht bunt gehaltenen historischen Kostüme von Fernand Ruiz. Für die kreativen Lichteffekte, die nicht nur bei Tells Apfelschuss von großer Wirkung waren, sorgte Franco Marri.

 Das Sängerensemble – es bestand ausschließlich aus belgischen Sängern, die zum Teil in Lüttich geboren wurden – bestach durch exzellente Leistungen. In der Titelrolle konnte der Tenor Marc Laho seine beeindruckende Bühnenpräsenz voll ausspielen und dem Freiheitshelden Wilhelm Tell darstellerisch und stimmlich das nötige Profil geben. Herausragend die Sopranistin Anne-Catherine Gillet als Tells Gemahlin, die mit dramatischer Stimme und launigem Spiel, das allerdings manchmal zu krass ausfiel, ihre Rolle gestaltete. Ihre Angst um Ehemann und Sohn stellte sie schauspielerisch allerdings eindrucksvoll dar. Für ihre Arie, in der sie ihre Qualen und Ängste um ihren neuerlich gefangen genommenen Mann ausdrückt, erhielt sie verdientermaßen minutenlangen Szenenapplaus. Ihren Sohn spielte die junge Mezzosopranistin Natacha Kowalski als tapferen, oft übermütigen Jungen.

 Tells großer Gegenspieler Gessler wurde vom Bariton Lionel Lhote gleichfalls mit enormer Bühnenpräsenz dargestellt, der seinem Ruf als böser kaiserlicher Landvogt von Schwyz und Uri entsprach. Dass er sogar auf einem Pferd auf die Bühne ritt, war einer der netteren Regiegags. Aus der Tierwelt spielte auch noch ein Hund mit, der sich in allen Stellungen nervös kratzte, als nervte ihn die Musik (oder er hatte Flöhe). Als ihm bei der Verbeugungskur am Schluss auch noch ein zurückweichender Sänger auf den Fuß trat, flüchtete er in die Kulissen. Auf eine lebende Kuh hatte der Regisseur verzichtet, da reichte ihm eine Attrappe.

 Als Vater Melchthal, der geblendet worden war, weil er Gesslers Hut den Gruß verweigerte, hatte der Bariton Patrick Delcour einen großen Auftritt: von seinem Sohn und seiner zukünftigen Schwiegertochter Marie geführt, kehrt er ins Dorf zurück und begeistert sich an den Kampfparolen gegen Gesslers Truppen. Der Tenor Stefan Cifolelli als sein Sohn musste allzu stark outrieren, was bloß lächerlich wirkte. In zwei kleineren Rollen rundeten die Sopranistin Liesbeth Devos als Marie und der Bariton Roger Joakim als Reisender die gute Ensembleleistung ab.

 Der Chor schien in der Abstimmung mit Problemen gekämpft zu haben (Einstudierung: Marcel Seminara), während das Orchester der Opéra Royal de Wallonie unter der Leitung von Claudio Scimone die gefühlvolle Musik Grétrys sehr getragen wiedergab. Am Schluss der Vorstellung feierte das Publikum neben dem gesamten Ensemble, das auch mit Bravorufen bedacht wurde, vor allem den 78-jährigen italienischen Dirigenten, der am Pult weniger gebrechlich wirkte wie auf der Bühne. Eine zum Abschluss des interessanten Opernabends rührende Szene.

 Udo Pacolt, Wien

 

 

 

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