Ludwigsburg: „Gastspiel des ATERBALLETTO“ 13.2. 2014(Forum) – mit deutscher Erstaufführung
Don Quijote und Sancho Pansa in heutiger Gestalt: Hektor Budlla und Saul Daniele Ardillo. Copyright: Alfredo Anceschi
Das im italienischen Reggio Emilia beheimatete Aterballetto führt seinen unter dem langjährigen Leiter und Hauschoreographen Mauro Bigonzetti begründeten Ruhm auch unter der nunmehrigen Leitung von Cristina Bozzolini fort und gastierte jetzt im Rahmen einer Deutschland-Tour auch im Ludwigsburger Forum. Im Gepäck: neben zwei Choreographien Bigonzettis die Bekanntmachung mit Eugenio Scigliano, der als ehemaliger Tänzer nicht nur dieser Compagnie zu den Hoffnungsträgern Italiens für einen zukunftsträchtigen Ballett-Stil gilt und sich aktuell mit dem durch Petipa zu klassischen Ballett-Ehren gekommenen weltbekannten Stoff vom träumenden Ritter „DON QUIXOTE“ aus der Feder von Cervantes beschäftigt. Das Ergebnis wurde jetzt zwei Wochen nach der Uraufführung in Bozen als deutsche Erstaufführung in Ludwigsburg präsentiert.
Ausgangspunkt dazu ist weniger die Orientierung an der traditionellen Ballett-Rezeption, mehr an dem Cervantes Roman innewohnenden Schwebezustand zwischen Realität und Traum. Vor allem ging es ihm darum, die zentrale Gestalt gegenüber der dramaturgisch an den Rand gedrängten Funktion in den Klassiker-Versionen in den Mittelpunkt des Geschehens zu holen. Dementsprechend sind Don Quixote und sein Knappe Sancho Pansa die ganze Zeit präsent, ihr einziger Rückzugsort ist ein historisch anmutender Stuhl, in dem sie sich in ihrer Angst vor den Auswüchsen der Zivilisation schutzsuchend immer wieder aneinander klammern. Da es Scigliano um das allgemeine Ungleichgewicht des Künstlers zwischen Alltag und erschaffenem Phantasieleben geht, der Titelheld in vielen unter uns steckt und seine Ideale von universeller Bedeutung sind, begegnet uns hier kein Ritter in herkömmlicher Rüstung, sondern ein Mann in schwarzer Hose und weißem Unterhemd, Sancho Pansa gleichsam als Freund in zeitlosen Brauntönen. Hektor Budlla (Quixote) und Saul Daniele Ardillo (Pansa) gebieten auch so über das erforderliche solistische Gewicht, um ihren Rollen Aussagekraft zu verleihen. Die sich ihnen entgegen stellende Realität in Form von Gruppenszenen, aber auch einer gleich doppelt vorhandenen Dulcinea, bringt die Farbe oberflächlich ausgelassener Tänze in traditionell anmutenden Kleidern ins Spiel. Dieser Kontrast wie auch das duale Verhältnis von Wahrheit und Fiktion spiegelt sich auch in der Gegenüberstellung von spanischer Barockmusik und den experimentellen Klang-Clustern des finnischen Akkordeon-Spezialisten Kimmo Pohjonen.
Die thematische Verbindung liefert zudem der Bühnenhintergrund mit Video-Aufnahmen von der Natur, über die die schwarzen Flügel einer Windmühle oder losgelöste Buchstaben gleiten und damit den Schwebezustand des Phantasten unterstützen (Bühne, Kostüme und Licht: Carlo Cerri, Kristopher Millar und Lois Swandale). Choreographisch gesehen stehen auf der Seite Quixotes und Pansas oft verlangsamt träumerische Motionen den mehr hektisch fahrigen Schrittkombinationen der Gruppenauftritte gegenüber. Beim Aufeinanderprallen beider Seiten gelingen Scigliano starke bildhafte Spannungsverhältnisse, im Laufe des Stücks beginnen sich indes immer wieder dieselben Einstellungen im Kreis zu drehen. Das mag sicher auch an seinem noch nicht voll ausgeprägten Stil liegen, der unverkennbar in Bigonzettis körperbetonter Form wurzelt, aber noch kein über einen längeren Zeitraum tragendes Gewicht aufweist. Nicht nur dieser Suchzustand, auch das gar zu traurig stimmende, versickernde Ende lassen hoffen, dass sich bis zur für Oktober angekündigten abendfüllenden Fassung noch einiges runden und zum Besseren entwickeln wird. Bis dahin vollzieht das Aterballetto auch das Förderprojekt einer spannenden Zusammenarbeit mit der K-LAB Behindertenwerkstatt, die Parallelen zwischen den Tänzern und ihrer Ausdrucksuche durch Körperformulierung und der begrifflichen schriftlichen Verständigung von jungen Behinderten fruchtbar miteinander verknüpfen und einen Austausch herstellen soll.
Vor der Pause zeigten zwei Choreographien von Bigonzetti, warum er mit seiner sinnlich bewegenden Konfrontation menschlicher Körper zu Recht als führender lebender Tanzschöpfer Italiens gilt. Wie unterschwellig brodelt es unter den Ritualen einer Hochzeitsgesellschaft, deren Strenge durch die als vielfältige Metapher dienenden Metallstühle noch unterstützt wird. Bis zum Bersten gespannt sind die Körper der neun strikt voneinander getrennten Paare in Schwarz, unter denen eines in Weiß als Hochzeitspaar angedeutet ist. Strawinskys herbe Chorkantate „LES NOCES“ mit der Vertonung russischer Hochzeitsgedichte liefert dazu die sachlich kühl-stilisierte musikalische Basis wie auch den Titel der Choreographie aus dem Jahr 2002. Ein zentraler Tisch, der in die Aktion der Tänzer rhythmisch genau eingebunden wird, bedeutet dabei sowohl Schlaf-, Ess- und Trauungsstätte.
Das nachfolgende „INTERMEZZO“ von 2012 bot dann genau jene Kost, für die Bigonzetti ganz besonders geliebt und bewundert wird: das virtuose, skulpturelle und dennoch fließende Züge aufweisende Verschmelzen menschlicher Körper mit hoher ästhetischer Güte. Strawinskys Musik bildet auch hier, wenn auch mit der „Suite Italienne“ ganz anders geartete ideale Grundlage für den Tanz, gibt mit ihrem raffinierten Wechselspiel aus Instrumentalsoli und kleinem Orchester den Auslöser für ein rhythmisch bestechendes Ineinanderfügen zu neuen körperlichen Harmonien. Dabei entstehen fesselnde Gebilde, wenn z.B. die Männer mit ausgestreckten Armen auf Bauchhöhe ihre Partnerinnen in horizontaler Ausrichtung einmal um die Achse werfen oder sie mit ganz angezogenen Beinen wie kleine Babyknäuel dicht an ihren Körper halten. Und das alles mit einer Leichtigkeit, als ob es keine Schwerkraft zu überwinden gäbe. Für diese Leistung haben es die vier Paare verdient namentlich hervorgehoben zu werden, auch wenn sich die insgesamt 18 TänzerInnen bewusst als mit auffallender Geschlossenheit und Ausgewogenheit agierende Gruppe lauter Solisten präsentiert: Martina Forioso + Damiano Artale, Noemi Arcangeli + Saul Daniele Ardillo, Marietta Kro + Giulio Pighini, Johanna Hwang + Roberto Tedesco.
Auf eine hoffentlich baldige Wiederbegegnung mit dem famosen Ensemble, das – kaum zu glauben – in Italien lange Zeit als einzige von einem Theater unabhängige Ballett-Compagnie bestand.
Udo Klebes