Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

LINZ/ Neues Musiktheater: CARMEN – eine Carmen des 21. Jahrhunderts. Premiere

25.05.2014 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

LANDESTHEATER LINZ – CARMEN. Premiere 24. Mai 2014

Eine Carmen des 21. Jahrhunderts

 car04
Myung Joo Lee (Micaela). Foto: Christian Brachwitz/ Musiktheater Linz

Man mag es gar nicht glauben, aber bei der Uraufführung der Carmen im Jahr 1875 in Paris gab es von allen Seiten heftige Ablehnung gegen das Sujet und auch die Musik Georges Bizets. Selbst der Musikdirektor der Opéra meinte, dass „ordinäre Fabrikarbeiterinnen, Dirnen, Fahnenflüchtige und asoziale Elemente“ vorgeführt werden und das Geschehen in Mord und Totschlag ohne alle opernhafte Verklärung enden lassen. Erst viel später entwickelte sich diese Oper zu einem Bühnenwelthit, der aber oft nur noch als folklorehaftes Spektakel mit vielen roten Rüschen in einem touristischen Sevilla auf die Bühne kam. Nun, Regisseur Elmar Goerden, der in Österreich spätestens seit seinen Inszenierungen am Theater in der Josefstadt (Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“ und Thomas Bernhards „Vor dem Ruhestand“) bekannt sein dürfte, ging bewusst einen anderen Weg: Er vermied die romantische Schmonzette, kam erst gar nicht in Versuchung die Erwartungshaltungen einer traditionellen Vorstellung zu erfüllen und schuf ein Stück, das beinahe alle Aspekte des Originallibrettos in das 21. Jahrhundert transferierte. Dabei gelang es ihm, die Geschichte wirklich so zu erzählen, dass auch aufmerksame Kenner des Textes kaum Einwendungen machen können, sogar der gleiche Raum bei allen vier Akten kam total schlüssig und dass die Stierkampfarena ein Boxring war, das sah man auch schon an anderen Bühnen.

 Laura Clausen (in positiver Hinsicht detailverliebte Kostüme), Ulf Stengl und Silvia Merlo (nüchternes Bühnenbild) hatten dazu eine ungewöhnliche Kulisse gewählt: Nämlich den Torre de David in Caracas, der Mitte der 1990iger Jahre von einer Bank als Bürogebäude errichtet worden war, nach dem Konkurs der Bank aber unvollendet blieb. Der 45-stöckige Wolkenkratzer wurde später von Anhängern des Präsidenten Hugo Chávez besetzt und heute leben 2.500 Menschen quasi in einem „vertikalen Slum“, in dem der Aufzug fehlt, die Brüstungen ungesichert sind, nackte Betonwände dominieren. Aber eine basisdemokratische kollektive Verwaltung sorgt dafür, dass eine selbstorganisierte „Stadt in der Stadt“ geschaffen wurde, in der auch schon mal normale Büroangestellte wohnen, die in der Millionenmetropole Caracas unter dem Wohnraummangel leiden.

 Hier lebt auch Carmen mit allen Problemen einer alleinerziehenden Mutter, die sich auch um die Wäsche zu kümmern hat, mit ihrer Freiheitsliebe aufbrausend und leidenschaftlich ihren Weg geht, dennoch verletzlich und dem kleinen Glück hinterherlaufend. Die Soldaten des ersten Aktes kommen wohl alle aus der Strafkompanie der lokalen Milizen, Moralès führt ein straffes Kommando, Zuniga vergreift sich schon einmal an kleinen Mädchen. Auch Micaela, die als hoffnungslos in Don José verliebter Backfisch mit ihren weißen Kniestrümpfen in diese Welt der Subkultur eindringt, rückt man ebenso an die Wäsche.

 Diesen Mikrokosmos stellt Goerden grandios dar, mit viel Witz und Humor, mit Liebe zum Detail,  burlesken „running gags“ und wo es auch schon mal härter zur Sache geht. Die Oper beginnt mit einer aus dem TV-Tatort wohlbekannten Szene, nämlich dem Abtransport der toten Carmen im Plastikleichensack. Wie es dazu kam, erzählt die dramaturgisch von Thomas Barthol perfekt bearbeitete Oper in drei Stunden, wobei jede einzelne Minute hochspannend abläuft. Angefangen von der Kinderbande, denen der Sergeant Spritzpistolen schenkt, bis hin zum Schlussakt, als japanische Touristen fotografierend den Turm besuchen und von dessen Bewohnern um die Digitalkamera erleichtert werden. Köstlich die Schmugglerszenen, die natürlich in der Koks- und Heroinwelt spielen: Der weiße Stoff wird in Heiligenstatuen an den offiziellen Stellen vorbeigebracht, die Zollbeamten werden mit Schäferstündchen bei Laune gehalten. Aber allzu viel soll gar nicht verraten werden, das dabei ablaufende Breitbandkino bietet Stoff für mehrere Opernbesuche, bei denen alle Inszenierungsdetails zu entdecken sind.

In musikalischer Hinsicht kann sich das Gebotene auch durchaus sehen bzw. hören lassen.

Daniel Linton France schlug am Pult des Bruckner Orchesters Linz gleich beim Vorspiel ein enormes Tempo an, in manchen Ensembleszenen schien es dann sogar zum Parforceritt zu werden. Gewaltige Klangbilder in den Chor- und Massenszenen sorgten wohl dafür, dass die Solisten auch bei den ruhigeren Stellen allzu sehr auf die Tube drückten – hier wäre etwas weniger mehr gewesen. Besonders fiel dieser Umstand bei Myung Joo Lee auf, deren Micaela schon zu dramatisch wirkte und damit in Kontrast zu ihrem schulmädchenhaften Gehabe stand, mit dem sie in durchaus berechnender Weise die Liebe Don Josés gewinnen wollte. Aber beim Publikum kam sie gut an, was sich auch bei ihrem umjubelten Schlussapplaus zeigte. Auch Pedro Velázquez Díaz könnte seinen Don José etwas feiner gestalten, wenngleich natürlich alle Spitzentöne saßen und er auch in dieser Lautstärke bis zum letalen Finale gut durchhielt. Nicht ganz so zufrieden sein konnte man mit dem Escamillo von Seho Chang, aber gibt es für eine Bühne wie Linz überhaupt einen Sänger, der diese Rolle wirklich rüber bringt? Beim Auftrittslied schien Chang auch stimmlich angeschlagen, denn hier fehlte die Tiefe zur Gänze.

 Dominik Nekel (Zuniga) und Franz Binder (Moralès) agierten und sangen ebenso rollendeckend wie Matthäus Schmidlechner (Dancairo) und Sven Hjörleifsson (Remendado). Mit sehr vielen gesanglichen und darstellerischen Facetten warteten die beiden „Zigeunerinnen“ (und „Beste Freundinnen“ von Carmen) auf: Gotho Griesmeier (Frasquita) und Martha Hirschmann (Mercédès).

 Das hätte aber natürlich alles nicht für diesen Premierenerfolg gereicht, wenn nicht in der Titelrolle mit Katerina Hebelkova eine Sängerin zur Verfügung gestanden wäre, die einen von der ersten Minute an gefangen nahm: Die 35jährige Tschechin aus Iglau sang ihre erste Carmen bereits vor zehn Jahren und dennoch nahm man ihr die tätowierte Punkerin der No-Future-Generation immer ab. Trotz klobiger Militärstiefel und schwarzen Klamotten wirkte sie von Beginn an sehr sexy und spielte später ihre Reize im Lederrock genussvoll aus, in dem sie den Zippverschluss je nach Bedarf verschieden weit öffnete. Perfekt, wie sie das Gehabe und die Gestik einer am Rand der Gesellschaft lebenden jungen Frau verinnerlichte. Und hatte man sich an ihre eigenwillig herb timbrierte Stimme einmal gewöhnt, dann gab es auch in vokaler Hinsicht nichts zu bemängeln. Hier stand eine Frau mit beiden Beinen im heutigen Leben von Caracas! In ihrer realistisch inszenierten Ermordung spürte man sogar noch Poesie, als sie blutend daliegt und die rote Rose der Blumenarie aus ihrem Mund kommt.

 Von gewaltiger Stärke präsentierte sich der Chor und Extrachor des Landestheaters Linz, der vom Kinder- und Jugendchor unterstützt wurde und im Finalakt in voller Breite mit über 100 Personen auf der Bühne stand. Dass sich die Reihen des Premierenpublikums schon zur Pause gelichtet hatten war nicht zu übersehen, dass sich aber auch am Ende noch Buhs über das Regieteam ergossen, verblüffte dennoch. Die Bravo-Rufe hielten aber hier wacker dagegen.

Ernst Kopica

 

Diese Seite drucken