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LINZ: LES MISÉRABLES. Premiere

LINZ/ Musiktheater: Les Misérables . Premiere am 27.9.2013

Musical von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg nach dem Roman von Victor Hugo; Originalbuch von Alain Boublil und Jean-Marc Natel, Gesangstexte von Herbert Kretzmer, Zusätzliches Material von James Fenton, Orchestrierung von James Cameron

Deutsch von Heinz Rudolf Kunze

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                        Victor Hugo, als Autor zwischen Romantik und Realismus beheimatet, ist nicht gerade für Kurzgeschichten bekannt. Das diesem Musical zugrunde liegende Werk (einer von neun Romanen aus seiner Feder, deren Spuren oben abgebildet sind) über das Elend, in das der Mensch durch Zusammenwirken von Gesetz, Klassenschranken, Vorurteile und Armut gerät, geraten MUSS, erstreckt sich in gängigen Ausgaben über fast 800 Seiten bedrucktes Papier oder – in heutigen Maßstäben – gut 50 MByte als pdf. Der Roman gehört bis heute zum allerengsten Kanon der französischen Allgemeinbildung.

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Foto: © Landestheater Linz, Barbara Palffy.

Hugo, einer der Begründer des Urheberrechtes, war höchst politisch – man könnte ihn von seiner Einstellung her als „sozialliberal“ beschreiben – und erbitterter Gegner der als „Zweites Kaiserreich“ getarnten Diktatur von Charles Louis Napoléon Bonaparte (Napoléon III.), weswegen er diesen Roman in Verbannung auf der Insel Guernsey verfassen mußte. Das Werk, laut Charles Baudelaire „ein aufpeitschender Mahnruf an eine selbstgefällige Gesellschaft“, ist trotz seines Umfanges sein populärstes (höchstens sein „Glöckner von Notre Dame“ kommt ihm nah, auch dies ein Roman mit musikalischem Bezug) und wurde bislang ca. 45-mal verfilmt – alleine 10 Stummfilme davon gibt es.

Für die Autoren war es freilich eine große Hilfe, daß „alle Franzosen“ diesen Roman kennen, als sie 1980 eine musikalische Dramatisierung herausbrachten – vieles, was einem anderen Publikum erklärt werden müßte, kann bei solchem Auditorium als bekannt vorausgesetzt werden und erlaubt daher merkliche Kürzungen gegenüber dem Roman. Trotz dieses möglichen Nachteils außerhalb des Ursprungslandes war dieses Musical aber auch dort sehr schnell ein gewaltiger Erfolg – heute zählt man ununterbrochene 28 Jahre auf Londoner Bühnen, 60 Millionen Besucher in 38 Ländern sowie 23 Übersetzungen; die deutschsprachige Erstaufführung fand am 15. September 1988 im Raimundtheater Wien statt.

Liest man die Inhaltsangabe für dieses Musical, wundert man sich, wie man das ohne zu schludern in knapp 3 Stunden unterbringen kann – es wollen ca. 20 Jahre, rund 30 Charaktere, mehrere Handlungsstränge und Großereignisse wie die Pariser 1832er Revolution in dramatische Einheit und verkraftbare Aufführungsdauer finden: eine gewaltige Herausforderung für Regie und Ausstattung. Musicalchef Matthias Davids übernahm selbst die Inszenierung, ließ viel Emotionen, aber keinen Kitsch zu; dramaturgisch unterstützt wurde er dabei von Arne Beeker.

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Foto: © Landestheater Linz, Barbara Palffy.

Mathias Fischer-Dieskau ist für das Bühnenbild, präziser: die vielen mit Drama und Emotion geladenen Bilder, mit mehr als nur einem Hauch Delacroix, verantwortlich. Durch die oft sehr „filmischen Schnitte“ mit offenen Szenenwechseln, im Hintergrund eingeblendete Reminiszenzen und dergleichen ergab sich trotz des gewaltigen Handlungskomplexes ein sehr stringenter Ablauf, bei dem man nie in Gefahr geriet, den Faden zu verlieren. Wesentliche Eindrücke vermittelte auch das oft die Szenerie bestimmende Lichtdesign: Michael Grundner (gespenstisch: der Untergang des Javert!). Weit über die bloße Abbildung einer Epoche hinausgehende Kostüme: Susanne Hubrich, Choreografie Melissa King.

Jean Valjean, der Mann, der wegen Diebstahls eines Brotes für Jahre ins Gefängnis geworfen wird, und durch die Güte eines einzigen Menschen (Bischof von Digne: Ulf Bunde) zum unbeirrbaren Wohltäter gewendet wird: ein Tenor mit beachtlicher Opernerfahrung, Christian Alexander Müller; er durchschreitet etliche Lebensepochen in überzeugender Darstellung und übersingt meist die Mikrofonstütze ohne hörbare Anstrengung. Sein durch die Zeiten immer wieder auftauchender Gegenspieler Javert: Konstantin Zander, mit wohltönendem, kräftigem Bariton (und gemessen an seinem jugendlichen Alter sehr großer Bühnenerfahrung) – der rigide, empathielose Gesetzes- und Herrschaftsgetreue kommt auch in seiner Körpersprache sehr gut zum Ausdruck.

Fantine (Kristin Hölck) war leider nicht nur ihrer sehr gut gespielten Rolle entsprechend bemitleidenswert: wegen einer Erkältung war akut über die Darstellerin ein ärztliches Gesangsverbot verhängt worden, und die studierte Zweitbesetzung war nicht verfügbar; es gelang der Direktion aber, mit Carin Filipčić eine in diesem Stück erprobte Einspringerin kürzestfristig nach Linz zu holen – sie sang aus dem Graben und hat sich nahtlos in das vorzügliche Ensemble eingefügt: ihre Leistung an diesem Abend kann man ruhig werten, denn sie war makellos, also doppelt bewundernswert!! Bestens bei Stimme auch die grazile und liebevolle Cosette von Barbara Obermeier, ihr junger Held Marius: Alen Hodzovic, mit guter Tenorstimme und schauspielerisch ebenfalls sehr eindrücklich. Die in ihn unglücklich verliebte und ein trauriges Schicksal erleidende Éponine wurde von Ariana Schirasi-Fard gegeben; hier sollte man einflechten, daß die Musik dieses Musicals über weite Strecken nicht wirklich aufregend ist und sich in vielen Klischees und schon anderswo oft Gehörtem erschöpft – Frau Schirasi-Fard aber schaffte es, mit ihren zwei großen Auftritten (einer Arie „Nur für mich“ über ihre vergebliche Liebe und ihrer Todesszene) aus diesem eher flachen Material echte, packende Emotionen herauszuholen!

Monsieur Thénardier, lebensmittelvergiftungsgefährlicher und auch sonst bedenklicher Wirt, Kinderausbeuter, Taschendieb, Leichenfledderer, Hochstapler, Opportunist, Spitzel, kurz, ein Universalmistkerl – aber  trotzdem zum Lachen: Rob Pelzer, der nicht nur als körperlich und mimisch beweglicher Komiker, sondern auch sängerisch eine vorzügliche Leistung bot; seine kongeniale Ehekomplizin wurde gleichwertig effektvoll und engagiert von Daniela Dett auf die Bühne gestellt.

Riccardo Greco als Enjolras, Anführer der Studentenrevoluzzer, erkletterte mit die Barrikaden glaubwürdigem revolutionärem Feuer, was auch für seine Sangesleistung gilt. Verena Emelie Trahan hatte als kleine Cosette einen kurzen, aber höchst emotionellen Auftritt, sehr gut auch die kleine Éponine von Isabel Davies.  Der Straßenjunge Gavroche, der sich den revolutionären Studenten anschließt und dafür mit seinem blutjungen Leben bezahlt, wird von Dennis Mojsilovic mit unglaublich natürlich wirkender Unbekümmertheit, dabei bemerkenswerter darstellerischer Professionalität und stilistisch perfektem Gesang direkt ins Herz des Publikums gespielt.

Untadelige musikalische Leitung: Kai Tietje, der auch wesentlich daran beteiligt war, aus dieser Musik mehr Substanz herauszuholen als der Komponist eigentlich hineingetan hat; das Bruckner Orchester brillierte erneut als „philharmonische Musicalband“. Der große und – wie fast alle Protagonisten – immer wieder auch mit sehr raschen Kostümwechseln beschäftigte Chor, darstellerisch präzise und sängerisch bestens disponiert, stand wieder unter der Leitung von Georg Leopold; das coaching der Kinderdarsteller oblag Ursula Wincor – mit großem Erfolg, siehe oben!  

Großer Applaus bis hin zur standing ovation für ausnahmslos alle Beteiligte.

 Fazit: visuell und darstellerisch höchst eindrucksvoll, aus der nicht allzu aufregenden Musik (Ausnahme: der finale Marsch „Das Lied des Volkes“) wird durch ein vorzügliches Ensemble viel herausgeholt.

 H & P Huber

 

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