Leipzig: „NABUCCO“Premiere 6. Januar 2013 (Werner Häußner)
Schon als die drei Streicherquarten den Beginn markieren, nicken sich einige Paare im Publikum zu: Jetzt kommt er, der „Gefangenenchor“! Bei der Uraufführung stürmisch gefeiert, ist das berühmte „Va, pensiero, sull‘ ali dorate“ bis heute die Wiedererkennungs-Melodie von „Nabucco“. Gäbe es diesen Chor nicht – bei Aufführungen in Italien muss er regelmäßig wiederholt werden –, teilte Verdis dritte Oper vermutlich das Schicksal seiner übrigen Frühwerke, verkannt und vergessen zu sein. Auch bei der jüngsten Premiere in Leipzig verfehlte der schwärmerisch wiegende Belcanto im Sechsachteltakt seine Wirkung nicht.
Die Oper Leipzig eröffnete mit diesem Werk des 28jährigen Verdi, mit dem er sich den internationalen Durchbruch errang, das „Verdi-Jahr“ in Deutschland. Und das, obwohl in der Stadt an der Pleiße ein anderer musikalischer Gigant des 19. Jahrhunderts geboren wurde: Richard Wagner. Ihn würdigt Leipzig ebenfalls mit einem Jugendwerk. Ab 16. Februar stehen „Die Feen“ im Spielplan: Wagners erste erhaltene Oper in der bisher einzigen geplanten szenischen Produktion des „Wagner-Jahres“ 2013.
„Nabucco“ wurde Dietrich Hilsdorf anvertraut, einem Regisseur, der mit Verdi viel Erfahrung hat: 17 Mal, so heißt es in einem Interview, habe er Verdi inszeniert! Vor Jahren provozierte er mit seinem „Troubadour“ in Essen einen Skandal; 2004 irritierte er das Publikum in der Bischofsstadt Münster mit einem schonungslos auf morallose Macht in der Kirche hin getrimmten „Don Carlos“. Der Missbrauch des Glaubens zu Zwecken von Herrschaft und Unterdrückung hat Hilsdorf immer interessiert; seine Regie-Mittel setzt er inzwischen subtiler ein. So kommt er ohne plumpe Aktualisierungen etwa im Hinblick auf den Nahostkonflikt aus. Und er muss auch keine Panzer durch die Tempelwand brechen lassen, wie es Peter Konwitschny im Dresdner „Nabucco“ durchaus mit Schockwirkung vorgeführt hat.
Im Leipziger „Nabucco“ ist die Frage nach dem wahren Gott und der Selbstvergöttlichung eines Menschen – Nabucco erklärt sich selbst zum Gott und wird daraufhin mit Wahnsinn geschlagen – von Hilsdorf konsequent politisch gedeutet: Die Diktatoren der nachrevolutionären Zeit beziehen ihre Legitimation nicht mehr aus einem – wenn auch vielfach missbrauchten „Gottesgnadentum“ – sondern aus sich selbst.
In Hilsdorfs Konzept spiegelt sich wieder, was in Verdis Jugend in den geistig umtriebigen Köpfen Europas gärte. Die Französische Revolution hatte den Menschen an die Stelle Gottes gesetzt, aber statt des naturgegeben Guten im Menschen das Monster der Macht und Brutalität entfesselt. Wenn sich Nabucco am Ende zum Gott der Hebräer bekehrt, erkennt er an, dass über ihm einer regiert, der stärker ist als er. Wenn Nabucco feststellt, ein Gefangener zu sein, hat das auch einen metaphorischen Sinn: Er ist gefangen in der Selbststilisierung zum Gott, im Wahn, alles beherrschen zu können.
Den Ausweg findet er in einer Gotteserkenntnis, die so blitzartig kommt wie vorher seine geistige Verwirrung: Nabucco kehrt nicht etwa zu den alten babylonischen Göttern zurück; er will Altar und Tempel des Hebräergottes wieder erstehen lassen und seine eigenen Riten vernichten. Der Gefangenenchor, mit dem uns Hilsdorf an der Rampe konfrontiert, wirkt in diesem Kontext nicht wie ein wehmütig vergoldeter Blick der Hebräer auf ihr verlorenes Land, sondern wie eine – aus biblischen Texten zusammengestellte – Vision einer Heimat, die eher im Paradies als in einer geografischen Region zu suchen wäre.
Dieter Richters Bühnenbild und Renate Schmitzers Kostüme spielen dem Konzept Hilsdorfs mit vielerlei Assoziationen zu: Der vermauerte, schimmernd geflieste Bühnenraum erinnert an das babylonische Ischtar-Tor, aber auch an die unheimlich klinischen Wände der Gaskammern. Der Raum wird immer wieder überlagert mit der Projektion eines Saals in theatralischem barockisiertem Stil – Verweis auf die „Inszenierung“ von Macht, aber auch auf das Pariser Boulevardtheater der Zeit, aus dessen Bereich Verdis Librettist Temistocle Solera seine Quellen hat: ein Melodram von Auguste Anicet-Bourgeois und Francis Cornu sowie ein Ballett von Antonio Cortesi. Theater als Spektakel, als Revue, als Illusion kann auch eine Seite haben, die Wahrheit verschleiert, Täuschung beabsichtigt, Realität verfälscht. Diesen ideologischen Aspekt, dem sich Politik seit dem 19. Jahrhundert immer professioneller bedient hat, deutet ein drehbares Bühnenportal an. Lichter wie im Varieté signalisieren den schönen Schein.
Der Glaube als Heilmittel der Macht: Das könnte so schön sein, aber dieses „glückliche Ende“ lässt Hilsdorfs realistischer Pessimismus nicht zu. Die von Solera ins Libretto eingewobene private Tragik gipfelt in Leipzig in einer Katastrophe: Fenena, die leibliche Tochter Nabuccos, wird nach ihrem heimlichen Übertritt zum Glauben der Hebräer hingerichtet; Abigaille, vermeintlich ältere Tochter, tatsächlich Spross einer Sklavin, will sich die Thronfolge herbeiintrigieren, wird aber wahnsinnig und stirbt. Und Nabucco wird Opfer einer – von Hilsdorf hinzuinszenierten – Palastrevolution: Die Baalspriester putschen und zementieren ihre und der Tradition Macht. Mit der Vision eines neuen Glaubens, einer humaneren Politik wird es nichts.
Hilsdorf steht für Verdi-Inszenierungen auf der Höhe unserer Zeit – und wird Gelegenheit haben, seinen Zugriff erneut zu erproben, wenn er im Juni 2013 am Aalto-Theater Essen Verdis Schiller-Adaption „Die Räuber“ („I Masnadieri“) inszenieren wird. Und Verdi musikalisch? In diesem Fall bedeute die Höhe der Zeit eher Niedergang: Auch Leipzig konnte nicht vergessen lassen, dass die glanzvollen Tage des Verdi-Gesangs uneinholbar sind.
Ausnahme ist der Chor der Leipziger Oper, der unter der kundigen Hand seines Leiters Alessandro Zuppardo den „sotto voce“-Ton ebenso trifft wie das schwärmerische Legato des Gefangenenchors. Die Solisten dagegen bleiben Verdi viel schuldig, trotz imposanter Lautstärken: Amarilli Nizza (Abigaille), die am Haus auch die Lady in Verdis „Macbeth“ und im Sommer in Verona Aida singt, setzt eine große, aber nicht sicher fokussierte und daher auch oft distonierende Stimme ein. Auch ihr psychologisches Feingefühl in den Piano-Schattierungen lässt nicht vergessen, dass ihrem Sopran die Kultur der konzentrierten Tonbildung abgeht.
Als Nabucco liebt Markus Marquardt als Gast aus Dresden Lautstärke, aber keine belcantistische Subtilität; ein verdeutschter Verdi-Gesang, der wie so oft in der Höhe zu flachen Tönen führt. Als Darsteller freilich durchdringt er den Charakter dieser Königsgestalt zwischen Anmaßung und Elend mit Momenten, die in ihrer Anteil weckenden Intensität an König Lear erinnern. Arutjun Kotchinian ist die Partie des Zaccaria anvertraut, in der einst italienische und russische Bässe Triumphe feierten. Doch die gezackte Linie seines Singens und die unstet gebildeten Töne überzeugen nicht. Und Gaston Rivera als Ismaele setzt auf das heute übliche Verfahren im italienischen Fach, Eleganz durch Lautstärke, entspanntes Legato durch Druck, Klarheit und Fülle des Tons durch Protzen mit ungeschliffenem Material zu ersetzen. Nur Jean Broekhuizen als Fenena kann mit kontrollierter Stimme und stilistischer Aufmerksamkeit für sich einnehmen.
Das Gewandhausorchester leitet der neue stellvertretende Generalmusikdirektor Anthony Bramall: Er scheut sich nicht davor, die manchmal noch krude, knallige Musik des frühen Verdi in ihrer schroffen Simplizität auszustellen. Aber wenn es elegisch wird, wenn Verdi die krachenden Banda-Rhythmen zurücknimmt, lässt auch Bramall die Kantilenen ausschwingen, hilft den vorzüglichen Solisten in Blech- und Holzbläsern, ihr Können zu entfalten. Leipzig hat im seit langem wieder einmal ausverkauften Haus gezeigt, dass man auch vor Verdis frühen Opern nicht in ratloser Regie kapitulieren muss. Musikalisch ist die Skala nach oben noch erweiterbar; ob an anderen Häusern allerdings geeignetere Sänger verfügbar sind, muss sich in diesem Verdi-Jahr erst noch erweisen.
Werner Häußner