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LEIPZIG: BACHFEST 2013 beleuchtet die „VITA CHRISTI“

24.06.2013 | KRITIKEN, Oper

Bachfest Leipzig 2013 beleuchtete die „VITA CHRISTI“, 23.06.2013

von Ursula Wiegand

 Das Bachfest Leipzig vom 14. bis 23. Juni stand unter dem Motto „Vita Christi“, und so waren Konzerte, Metten und weitere Darbietungen deutlich von Jesu Lebensstationen geprägt. Das Programm mit seinen 115 Veranstaltungen in Leipzig und Umgebung fand eine überaus rege Resonanz.

 
Bachdenkmal an der Thomaskirche, Foto Ursula Wiegand

 65.000 Besucher aus 31 Nationen kamen zum diesjährigen Bachfest. Neben den Deutschen waren Gäste aus Japan, den Niederlanden, den USA und der Schweiz am stärksten vertreten. Doch selbst aus Australien, China, Indien, Argentinien, Mexiko und der Karibik reisten Musikliebhaber an.

Unter 466 Werken und 205 Solisten konnten sie wählen. Sie taten es beherzt und bescherten dem diesjährigen Bachfest mit Ticketerlösen von gut 560.000 Euro – bei stabil gebliebenen Preisen – den bisher größten Verkaufserfolg.

Die Kinder-, Jugend- und Familienreihe „b@ch für uns!“ sowie die Open-Air-Konzerte auf dem Leipziger Markt waren weitere Anziehungspunkte. Auch „die Moderne“ hielt Einzug: mehr als 10.000 Menschen verfolgten ausgewählte Konzerte per Web-Stream.  

 
Bachs Thomaskirche, Foto Ursula Wiegand

 Dass beim  Thema „Vita Christi“ Kompositionen von Johann Sebastian Bach eine Schlüsselstellung innehaben, ist so sicher wie das Amen in der Thomaskirche. Christi Leben und Wirken hat er während seiner 27-jährigen Tätigkeit als Thomaskantor zum Hauptinhalt seiner Werke gemacht. Daher war es logisch, dass mit Jesu Geburt begonnen wurde und am 16. Juni trotz Sommerhitze Bachs „Weihnachts-Oratoium“ im Gewandhaus erklang.

Vom 17. bis einschließlich 20. Juni war ich vor Ort und habe diesmal Werke hören können,  die sonst fast nie aufgeführt werden. So in der Thomaskirche Ludwig van Beethovens einziges Oratorium  „Christus am Ölberge“.  

Beethoven hatte es im Frühjahr 1803 nach einem Text von Franz Xaver Huber in nur 14 Tagen komponiert, offenbar ein Schnellschuss. Schon am 5. April jenes Jahres wurde es im Theater an der Wien uraufgeführt, wo er gerade zum Hauskapellmeister ernannt worden war. Zweimal hat er es überarbeitet, zuletzt 1811, doch mehr an Tiefgang hat das nicht gebracht.

 
Bachfest 2013, Gothart Stier dirigiert den Monteverdi-Chor Hamburg, Foto Gert Mothes

 Daran kann auch Gothart Stier nichts ändern, der sich der Partitur mit solch einem Temperament annimmt, dass ihm die Brille ständig von der Nase zu rutschen droht. Der Monteverdi-Chor Hamburg und das Mitteldeutsche Kammerorchester stehen so gesehen ebenfalls auf verlorenem Posten. Nur die Solisten reichern dieses opernhafte, recht unausgegorene Werk mit gut geführten Stimmen an. Gleich nach der düsteren, gewaltig anschwellenden Einleitung in es-Moll gibt Jörg Dürmüller dem Christus Statur, hier ein Tenor-Part.

Glockenklar singt Miriam Meyer die sehr Mozart-affine Partie des Seraph.  Mit kräftigem Bass charakterisiert Henryk Böhm den Petrus. Zuletzt zeigt Beethoven, dass er auch Fuge kann, lässt aber die Ölberg-Geschichte erneut opernhaft in triumphierendem Dur ausklingen. Der lebhafte Applaus gilt wohl eher den Interpreten als Beethoven, der es wohlweislich bei diesem einen Oratorien-Versuch belassen hat.

 Wie hoch die Fallhöhe ist, hat gleich anfangs die 1724 erstmals aufgeführte Bach-Kantate „Jesu, der du meine Seele“, BWV 78 gezeigt. Zwar setzt auch Johann Sebastian auf Effekte, integriert sogar italienische und französische Traditionen und kombiniert sie mit mitteldeutschen Chorälen. Doch all’ das wird nicht zur kompositorischen Fingerübung. Bach illustriert den Text und lässt ihn in vielen Facetten schillern.

Zu den Solisten gehört jetzt auch Susanne Krumbiegel mit ihrem schönen vollen Alt. Sie kann Bachs Koloraturen  gekonnt singen, während dieses Jörg Dürmüller – anders als später bei Beethoven – weniger gut gelingt.  

Überzeugend gerät allen Beteiligten jedoch das letzte Werk dieses Abends: das selten gespielte „Stabat Mater“, D 383 von Franz Schubert. Hier lässt der 19-Jährige seinen romantischen Gefühlen freien Lauf, ohne ins Gefühlige abzugleiten, lässt den Chor in trauervoller Massivität starten und fordert der Sopranistin sogleich Dramatik ab.

Lächeln muss ich beim 2. Choreinsatz, ist doch eine Zeile aus Joseph Haydns Kaiserhymne zu vernehmen, im Deutschlandlied das „blüh’ im Glanze dieses Glückes“. Solche Zitate waren seinerzeit üblich und ein Kompliment.

Da überdies fast alle Komponisten Bachs Werke studiert haben, muss auch beim jungen Schubert der Chor zweimal eine Fuge singen, zuletzt beim ausgedehnten, in Dur endenden Amen. Denn Marias Trauer über ihren gekreuzigten Sohn mündet in Jubel, da sein Opfertod die Welt erlöst. Die Hamburger singen das mit hörbarer Anteilnahme. Der herzliche Beifall zeigt, dass das Publikum solche engagiert dargebotenen Entdeckungen zu schätzen weiß.

 
Bachfest 2013, Frieder Bernius dirigiert die Hofkapelle Stuttgart, Foto Gert Mothes

 Auch „Lazarus oder Die Feier der Auferstehung“, D 689, ebenfalls von Franz Schubert,  und 1863 in Wien – 35  Jahre nach seinem Tod – auf Initiative von Johannes Brahms uraufgeführt, haben sicherlich viele noch nie live erlebt. Für solche Raritäten ist dieses Bachfest zu loben, das überdies dem Geburtstagskind Richard Wagner am Eröffnungsabend mit einer Auswahl seiner Lieder Tribut gezollt hat. 

In der Nikolaikirche erwecken nun der Kammerchor und die Hofkapelle Stuttgart unter der  Leitung von Frieder Bernius diesen „Lazarus“, Schuberts einziges Oratorium, zu neuem Leben – soweit es Schubert zulässt.   

Bibelfeste wissen, dass Jesus den schon beerdigten Lazarus wieder auferweckt hat. Zahlreiche Maler zeigen in ihren Bildern einen von Leichentüchern umwickelten Lazarus, der seinem Grabe entsteigt, was als Hinweis auf Christi spätere Auferstehung gedeutet wird.

Doch diesen Schluss finden wir bei Schubert nicht. Seine äußerst sorgfältige Reinschrift von 1820 bricht nach 262 Seiten noch vor der Beerdigung des Lazarus ab. Ein Punkt nach dem letzten Manuskriptsatz, danach noch ein „Und“. Das war’s.  

Die penible Reinschrift lässt annehmen, dass Schubert diesen Auftrag fest in der Tasche hatte oder sicher war, mit diesem Oratorium alsbald eine Chance zu haben. War das strikte Verbot von Oratorien-Aufführungen im damaligen kaiserlich-königlichen Österreich der Grund für die Nicht-Beendigung? Oder waren es Glaubenszweifel, die Schubert die Fortsetzung unmöglich machten?  Das sind ungelöste Rätsel.

Jedenfalls ist dieses rd. 90-minütige Fragment von großer Todesfurcht und Trauer geprägt, schließlich auch von einer Fügung ins Unvermeidliche. Bernius und die Seinen tun alles für dieses unvollendete, aber durchaus interessante Werk, das allerdings auf die Spannung fördernde Unterteilung in Rezitative und Arien verzichtet.  

Die Solisten überzeugen ebenfalls, nicht nur mit ihren Stimmen, sondern auch in der gelungenen Zeichnung der unterschiedlichen Charaktere. So hat Lazarus in Andreas Weller (Tenor) den passenden Interpreten gefunden, der seine Todesangst ebenso hörbar macht wie die dann einkehrende Gelassenheit. Ebenfalls im Tenorfach agiert sein Freund Nathanael, gut gesungen von Tilman Lichdi.

Die Rollen der beiden Schwestern Maria und Martha hat Schubert zwei Sopranistinnen zugeordnet. Sarah Wegener gibt die sanfte, gefühlvolle Maria, Johanna Winkel die handfestere Martha. Hinzu kommt Sophie Harmsen (Mezzo) als Jemina, eigentlich eine Tochter Hiobs aus dem Alten Testament.

Nur Simon, der erst in der so bezeichneten Zweiten Handlung über ein Gräberfeld geht, darf seine Furcht vor dem Sterben in tieferen Lagen artikulieren. Tobias Berndt kann mit volumigem Bariton Simons Gefühlswallungen perfekt ausdrücken. Hat sich Schubert 8 Jahre vor seinem frühen Tod schon vor dem Sterben gefürchtet und für sich keine Auferstehung  erwatet?

Die bei ihm fehlende Erlösung liefert gleich anschließend Johann Sebastian Bach in beeindruckender Weise nach. Mit der „Christ lag in Todesbanden“, BWV 4, seiner Kantate zum ersten Ostertag. Der gläubige Bach hat keinerlei Zweifel an der Auferstehung, an der von Jesus schon gar nicht. Nach der „Sinfonia“, einer ergreifenden, melodienreichen Instrumentaleinleitung, kulminieren die folgenden Verse in einem stets wiederkehrenden, ausgiebigen Halleluja, das den Auferstandenen preist und allen Gläubigen die Erlösungsgewissheit verschafft. Auch Bachs gesanglichen Anforderungen sind die Solisten gewachsen und stellen ihr Können unter Beweis. Lang anhaltender Jubel belohnt alle Beteiligten.

 
Bachfest 2013, Sir John Eliot Gardiner dirigiert die Johannes-Passion, Foto Gert Mothes

 Doch weit übertroffen wird diese Zustimmung durch die hoch verdienten Bravos, die Sir John Eliot Gardiner nach der Aufführung der „Johannes-Passion“, BWV 245, in der ausverkauften Thomaskirche entgegenbranden.

Gewiss wird damit auch der Mann geehrt, der im Jahr 2000, zu Bachs 250. Todestag, dessen gesamte Kantaten in diversen Kirchen aufgeführt hat. Der intensive und freudige Applaus gilt aber weit mehr der ganz eigenen, ja vollkommenen Art, wie er – gemeinsam mit seinem  Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists – die Zuhörer an Christi Leidensweg teilhaben lässt.  

Mit weit schwingenden Gesten zieht er die Melodiebögen, nichts ist forciert oder überpointiert. Selbstverständlich strömt die Musik. Gardiner lässt Bach sprechen, nur ihn, und das ist beglückend und faszinierend zugleich. Der Chor, der das Geschehen farb- und ausdrucksreich begleitet, hat daran einen wesentlichen Anteil.   

Ebenso gilt das für den exzellenten Mark Padmore als Evangelisten, ein international gefragter Interpret dieser Rolle. Der ist mehr als ein bloßer Chronist. Wie er das „Barrabas aber war ein Mörder“ gestaltet, lässt zittern. Noch mehr berührt, wie er Petrus nach der Verleugnung Jesu herzerweichend weinen lässt.  

Diese Sonderklasse erreichen die übrigen Solisten nicht, steigern sich aber im Verlauf. Der Bass von Matthew Brook (Jesus) lässt anfangs die dem Gottessohn zustehende Power vermissen und hat einige Probleme mit der Tiefe.

Hannah Morrison (Sopran) singt zwar mutig frei heraus, kann aber „Abrutscher“ ebenso wenig vermeiden wie Meg Bragle (Mezzo). Das „Es ist vollbracht!“ gelingt ihr jedoch überzeugend. Nicholas Mulroy (Tenor) setzt sehr auf Ausdruck, kennt aber wohl nicht die schwierige Akustik der Thomaskirche. Seine Piani kommen unten im Gotteshaus (im Gegensatz zur Empore) wahrscheinlich kaum an.  

 
Bachfest 2013, Schlussapplaus nach der Johannes-Passion, Foto Ursula Wiegand

 Peter Harvey, der den Pilatus und einige Arien singt, setzt sich mit seinem Bass so gesehen besser durch. Doch solch kleine Einwände verblassen gegenüber dem überwältigenden und bejubelten Gesamteindruck.

 Zu einem Highlight ganz anderer Art wird „Dramma per Musica“, die Darbietung weltlicher Bachkantaten in der Musikalischen Komödie, Leipzigs Operettentheater.

 
 Bachfest, Leipzigs Musikalische Komödie, Foto Ursula Wiegand

Doch erst nach der durchaus humorigen „Ouvertüre C-Dur“, TWV 55:C3 von Georg Philipp Telemann und dem „Brandenburgischen Konzert Nr. 1“ F-Dur, BWV 1046 von Johann Sebastian Bach werden zwei seiner nicht kirchlichen Kantaten in Szene gesetzt.

Dabei zeigt sich schnell, dass sein Geburtstagshymnus für den Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels mit dem Titel „Was mir behagt, ist nur die muntere Jagd“ BWV 208 wohl ein eher pflichtschuldiges Unterfangen war, allerdings ein recyceltes, ein bei einem ähnlichen  Anlass vor Jahren komponiertes Stück. Die Götter Diana, Endymion, Pan und die Nymphe Pales bringen dem Herzog ein Ständchen, doch sehr amüsant ist das nicht.

 
Bachfest 2013, Marina Zyatkova mit Piotr Micinski, Foto Gert Mothes

 Ganz anders das folgende „Schweigt stille, plaudert nicht“, BWV 211, Bachs berühmte  „Kaffeekantate“. Der lustige Zank zwischen dem Kaffee süchtigen Liesgen und ihrem Vater namens Schlendrian (!) eignet sich bestens zur szenischen Aufbereitung. Mit der süßen Marina Zyatkova im wippenden Reifröckchen und dem bekennenden Kaffeehasser Piotr Micinski, der heimlich zur Zigarette und Weinflasche greift, wird das eine putzmuntere Angelegenheit. Beide geben ihrem Affen singend und spielend so richtig Zucker, machen das aber mit selbstironischem Können.

Die hübsche Kleine, die sich lieber um ihren Kaffee- als um ihren Liebeskonsum kümmert, macht dem Papa stets wechselnde Sorgenfalten. Denn der möchte sie unter die Haube bringen, doch Männer interessieren sie zunächst gar nicht.

 
Bachfest 2013 Alberto ter Doest und Marina Zyatkova, Foto Ursula Wiegand

 Als aber ein ansehnlicher Mann mit einer Kaffeekanne auf dem Kopf erscheint, sie anhimmelt und ihr bald ständig Kaffee einschenkt, verliebt sie sich sofort. Eine stumme Rolle, gespielt von Alberto ter Doest, zuvor der gefeierte Fürst in der Jagdkantate.

Das kleine Stück wird zum großen Spaß, zumal sich das Combattimento Consort Amsterdam unter Jan Willem de Vriend ebenso so munter ins Zeug legt. Und es passt auch zum Thema „Vita Christi“, hat doch Jesus, wie die Evangelisten berichten, auf der Hochzeit zu Kanaa mitgefeiert und für wundersamen Weinnachschub gesorgt.  

Das Bachfest steht jedoch nicht nur für großartige Musik, sondern auch für recht kurze Nächte, nicht nur bei denjenigen, die nach den Konzerten noch in die Moritz-Bastei zu den jazzigen Bach-Reflections eilen. Leipzigs warme Sommernächte verlocken zum Draußensitzen. Dennoch sind die morgendlichen Gottesdienste, die freundlicherweise um 09.30 Uhr beginnen, stets sehr gut besucht. Denn auch in diesem Rahmen wird Hochwertiges geboten.

 
Bachfest 2013, Gotthold Schwarz in der Peterskirche, Foto Ursula Wiegand

 Dass Gotthold Schwarz und das Bach Consort Leipzig Bachs Vorgänger in der Peterskirche musikalisch zu Worte kommen lassen, freut mich besonders. Eine ähnliche Wahl trifft der junge Dirigent Ludwig Böhme – zusammen mit dem Kammerchor Josquin des Préz und dem Leipziger Barockorchester – tagsdarauf in der Thomaskirche.

 
 Bachfest 2013, Tobias Hunger, Tenor, Foto Ursula Wiegand

 Bei beiden Metten fällt mir der Tenor Tobias Hunger positiv auf. Der gestaltet sie Bachschen Koloraturen mit Körpereinsatz und schwingt mit, was seinem Singen Volumen und eine besondere Geschmeidigkeit verleiht.

Auch die Katholische Propsteikirche schließt sich diesem Trend zur Alten Musik an und setzt neben Johann Sebastian Bach insbesondere auf Heinrich Schütz, dem sich – wie könnte es anders sein – das Schütz Consort Leipzig unter Oliver Burse versiert widmen. So gesehen brachten in diesem Jahr auch die Kirchen so manches, was sonst nur selten zu hören ist. Das Bachfest wurde so zur Fundgrube für Entdecker, selbst wenn es traditionsgemäß mit Bachs  „Messe h-Moll“ in der Thomaskirche endete.

Das nächste Bachfest Leipzig vom 13.-22. Juni 2014 könnte weitere Überraschungen bieten. Schon das Motto „die wahre Art“ klingt ungewöhnlich. Es bezieht sich auf den 300. Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach und sein bedeutendstes Lehr- und Studienwerk „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“. 

Der Vorverkauf beginnt am 15. Oktober 2013. Siehe unter www.bachfestleipzig.de

 

 

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