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LAUSANNE: L’AIGLON (Der Adler) von J. Ibert und A. Honegger

27.04.2013 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Opernrarität in Lausanne: „L’Aiglon“ von Jacques Ibert und Arthur Honegger (Vorstellung: 26. 4. 2013)


Carine Séchaye. Foto: Marc Vanappelghem.

 In der Opéra de Lausanne ist zurzeit eine besondere Rarität zu sehen: „L’Aiglon“ von Jacques Ibert (1890 – 1962) und Arthur Honegger (1892 – 1955). Den ersten und fünften Akt der Oper schuf der französische Komponist, den zweiten, dritten und vierten Akt der Schweizer. Die Uraufführung dieser Gemeinschaftsarbeit fand 1937 in Monte Carlo statt und war offenbar so erfolgreich, dass die beiden ein Jahr später noch die Operette „Les petits Cardinal“ gemeinsam komponierten.

 Bei der Handlung der Oper „L’Aiglon“ („Der Adler“), deren Text Henri Cain nach dem Drama von Edmond Rostand verfasste, geht es um Napoleons Sohn, den Herzog von Reichstadt, der mit seinem treuen Diener Séraphin Flambeau einen fiktiven Fluchtversuch aus Schönbrunn unternimmt, um an historischer Stätte in Wagram seine Truppen zu führen.

 Der Herzog von Reichstadt, geboren 1811 in Paris, war der einzige legitime Nachkomme von Napoleon Bonaparte und stammte aus dessen zweiter Ehe mit Marie-Louise von Österreich. Sein kurzes Leben – er starb bereits 1832 in Schönbrunn – war von Tragik, aber auch von Romantik erfüllt. Schon bei der Geburt wurde ihm der Titel König von Rom verliehen, 1814 ernannte man ihn zum erbberechtigten Prinzen von Parma. Als er vier Jahre alt war, musste sein Vater als Kaiser der Franzosen abdanken, worauf seine Mutter mit ihm nach Wien zog.

Den Titel Prinz von Parma verlor er schon 1817 wieder, worauf ihm sein kaiserlicher Großvater die böhmische Herrschaft Reichstadt schenkte und sie zum Herzogtum erhob. Im Alter von zwölf Jahren erhielt er bereits das Offizierspatent, 1830 wurde er zum Major befördert. Angeblich hatte er eine Beziehung zu Sophie von Bayern, die seit 1824 mit dem österreichischen Erzherzog Franz Karl verheiratet war. Deren 1830 geborener Sohn, der spätere Kaiser Franz Joseph I., sei in Wirklichkeit ein Sprössling des Herzogs von Reichstadt. Auch sagte man ihm eine Affäre mit der berühmten Tänzerin Fanny Elßler nach, deren Vater Kammerdiener des Komponisten Joseph Haydn war. Anfang 1832 erkrankte er an Tuberkulose und starb im Alter von nur 21 Jahren am 22. Juli 1832 auf Schloss Schönbrunn.

 Renée Auphan hat die Oper, deren Schweizer Erstaufführung 1953 in Genf war, vor etwa zehn Jahren in ihrer Direktionszeit in Marseille wieder ausgegraben und hat nun die damalige Inszenierung von Patrice Caurier und Moshe Leiser für die Opéra de Lausanne neu adaptiert. Und zwar sehr erfolgreich. Das Werk wird – mit exzellenter Personenführung für die tragenden Figuren der Handlung – realistisch dargebracht, wobei auch der Humor nicht zu kurz kommt. Passend dazu die elegant wirkende Bühnengestaltung durch Christian Fenouillat, dessen Dekorationen das Ambiente von Schloss Schönbrunn gut wiedergaben, und die der historischen Zeit entsprechenden Kostümentwürfe von Agostino Cavalca. Auch die kreative Lichtgestaltung durch Christophe Forey soll nicht unerwähnt bleiben.

 Die Titelrolle des Herzogs von Reichstadt, der sich als Napoleon II. sah und den Spitznamen „Der Adler“ trug, verkörperte die Mezzosopranistin Carine Séchaye mit Bravour. Ihre knabenhafte Figur und ihr burschikoses Spiel prädestinierten sie für diese Hosenrolle. Dazu konnte sie sowohl in den „träumerischen“ Sequenzen wie auch in den dramatischen Szenen, in denen die innere Zerrissenheit dieser Figur offen zutage tritt, stimmlich überzeugen. Ein Glücksfall für diese Produktion!

 Den treuen Diener Séraphine Flambeau sang der ein wenig behäbig wirkende Bariton Marc Barrard mit warmer Stimme und einem Schuss Humor, der ihm viele Sympathien eintrug. Sehr bühnenbeherrschend agierte der Bassbariton Franco Pomponi als Fürst Metternich. Seinen großen Auftritt hatte er im zweiten Akt, als er mit harter, keinen Widerspruch duldender Stimme dem Napoleon-Sprössling seine Flausen und von Träumen gespickten Pläne auszutreiben versucht. Poetisch ausgedrückt könnte man sagen, dass er dem Adler seine Flügel stutzte. Als Marie-Louise blieb die Mezzosopranistin Marie Karall anfangs etwas blass, doch konnte sie im Schlussakt ihre Muttergefühle für den im Sterben liegenden Sohn bühnenwirksam ausspielen.

 Auch die vielen kleineren Rollen waren adäquat besetzt: Marschall Marmont mit dem Bariton Benoît Capt, der französische Militärattaché und Frédéric de Gentz mit den Tenören Christophe Berry und André Gass, der Chevalier de Prokesch-Osten mit dem Bariton Sacha Michon, Thérèse de Lorget mit der Sopranistin Carole Meyer, die Comtesse Camerata und die Tänzerin Fanny Elßler mit den Mezzosopranistinnen Céline Soudain und Antoinette Dennefeld, die dazu auch ihre tänzerischen Fähigkeiten unter Beweis stellte.

 Für die hohe musikalische Qualität sorgte Jean-Yves Ossonce, der das Orchestre de Chambre de Lausanne sehr einfühlsam dirigierte und die Feinheiten der Partituren von Jacques Ibert und Arthur Honegger mit vielen Nuancen zum Besten gab. Im 1. Akt, der – wie auch der letzte – im Schloss Schönbrunn spielt, dominierten zarte Walzertöne, im 5. Akt ans Herz gehende sakrale Trauermusik. In den Akten 2 bis 4, die von Honegger komponiert wurden, war dramatische Musik vorherrschend (der zweite spielt im Präsidentenpalast, der vierte auf dem Schlachtfeld in Wagram), im dritten Akt hingegen, der im Park von Schönbrunn einen Maskenball zeigt, erklingt ein herrlicher Walzer. Was manche möglicherweise als musikalische Brüche bezeichnen, fand ich als reizvollen Gegensatz, der auch in der Handlung begründet ist.

 Das Publikum im völlig ausverkauften Haus schien restlos begeistert und belohnte alle Mitwirkenden mit nicht enden wollendem Beifall, wobei es viele Bravo-Rufe für die Sängerin der Titelrolle sowie für den Dirigenten und sein Orchester gab. Man kann der Opéra de Lausanne zu dieser Ausgrabung nur gratulieren.

 Udo Pacolt, Wien – München

 

 

 

 

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