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James Romm: SENECA UND DER TYRANN

31.05.2018 | Allgemein, buch

James Romm:
SENECA UND DER TYRANN
DIE KUNST DES MORDENS AN NEROS HOF
320 Seiten, Beck Verlag, 2018

Wie lebt man in der Welt eines blutrünstigen Willkür-Herrschers, wenn man selbst geradezu verpflichtet ist, als moralische Instanz zu fungieren?

Dieses Problem zeigt sich wohl an wenigen Persönlichkeiten der Weltgeschichte so deutlich wie an Lucius Annaeus Seneca, einst als Neros „Lehrer“ engagiert – und so gar nicht erfolgreich darin, aus seinem Schützling einen weisen und gerechten Herrscher zu machen…

Wie Seneca in Neros Welt lebte, weiß man so einigermaßen – was ihn zu seinen Handlungen veranlasste und bewegte, ist bis heute unklar, weil der Philosoph in allen seinen Schriften so gar nicht „biographisch“ war und der Mit- und Nachwelt nicht mitteilte, wie die Dinge real gelaufen sind. Er schrieb mit seinen moralphilosophischen Abhandlungen geradezu darüber hinweg…

Und so kommt es, dass die antiken Quellen absolut kein einheitliches, sondern vielmehr ein extrem widersprüchliches Bild von Seneca liefern. In einer römischen Tragödie, die Neros erster, unglücklicher Gattin „Octavia“ gewidmet ist (und für deren Verfasser manche immer noch Seneca selbst halten, der ja auch ein Tragödienschreiber war – Romm denkt an einen unbekannten Zeitgenossen als Autor), erscheint er als das auch sittlich unantastbare Idealbild des römischen Philosophen. Andere, voran der Historiker Cassius Dio, halten ihn für einen Blender und Heuchler, einigermaßen ausgewogen steht ihm Tacitus gegenüber, ohne den Mann selbst „in den Griff“ zu bekommen. Es gilt also wieder einmal das Schiller’sche „Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte“.

Und wie bei allem, was sich nicht lösen oder eindeutig beantworten lässt, findet die Nachwelt in Sachen Seneca eine unendliche Geschichte der Möglichkeiten und Interpretationen vor. Hier lässt sich nun James Romm, der amerikanische Professor „for Classics“, darauf ein, dessen Buch über die Nachfolge des Alexander-Reiches man vor nicht langer Zeit fasziniert gelesen hat. Römische Antike nun also – und welcher Zugang? Das Reinwaschen Senecas oder dessen Verdammung, was resultiert aus der Darstellung der Fakten und den dazu angestellten Überlegungen?

Nun, Romm entscheidet sich nicht. Er schildert. Und weil Seneca (der etwa um das Jahr Null, das es bekanntlich nicht gibt, geboren wurde und etwa 65jährig als Opfer Neros starb) in seiner Lebensspanne alle fünf römischen „Kaiser“ erlebte, Augustus, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero, die alle (wenn auch Augustus vor Senecas Zeiten) eine Blutspur ohnegleichen nach sich zogen – wird diese Geschichte wieder einmal eine des Julisch-Claudischen Kaiserhauses, mit Seneca nicht eben als Randfigur, aber auch nicht immer im Zentrum…

Romm ist bekanntlich ein geschickter Erzähler. Senecas Selbstmord quasi als „Klammer“ des Geschehens nehmend, schreitet der Autor von Bluttat zu Bluttat, wobei er erst so richtig in die Geschichte einsteigt, als Agrippina, die Gattin von Kaiser Claudius, den verbannten Seneca aus Korsika nach Rom holte, um ihren Sohn Nero zu erziehen, den sie unbedingt als Nachfolger etablieren wollte (Claudius hatte einen eigenen Sohn aus der Ehe mit Messalina, Nero war sein Stiefsohn). Damals war Nero an die 12 Jahre alt, Seneca nahezu 50. Die dramatischsten Jahre seines Lebens begannen.

„Königsmord“: Agrippina ermordet Claudius, um ihrem Sohn Nero den Thron zu sichern (54 n. Chr.). „Brudermord“: Nero lässt seinen Stiefbruder und Rivalen um den Thron, Britannicus, während eines Festmahls vor den Augen aller vergiften (55 n. Chr.). „Muttermord“: Nero lässt seine Mutter Agrippina, die ihm allzu mächtig und gefährlich ist, ermorden, was erst beim zweiten Anlauf gelingt (59 n. Chr.). „Gattenmord“: Nero lässt seine Gattin Octavia, die Tochter von Claudius, verbannen und ermorden, um Poppea zu heiraten (62 n. Chr.). Das „Brandopfer“ schließlich bezieht sich auf den Brand von Rom, der – einfach aus Gründen logischer Überlegung – immer Nero angelastet wird, auch wenn es keine sicheren Beweise dafür gibt (54 n. Chr.)

Und dann schlug auch Senecas letzte Stunde, nachdem Nero in Folge der missglückten Pisonischen Verschwörung unter Roms Aristokratie gewütet hatte – Senecas ungemein brutaler Selbstmord im Jahre 65 n. Chr. wird auch in aller Ausführlichkeit geschildert. Man kann sich kaum eine schrecklichere Geschichte vorstellen.

Seneca, der geachtete Philosoph, der sich in seinen Schriften so ausführlich moralischen Fragen widmete (und mit seinen Überlegungen zu Tugend, Vernunft und richtigem Leben heute noch gelesen wird), war zwischen 49 und seinem Tod im Jahre 65 immer an Neros Seite – 16 Jahre lang, in denen er zusehen musste, wie sein Schützling zum hemmungslosen Mörder und Gewaltherrscher wurde. In diesen Jahren wirkte Seneca (gemeinsam mit dem ehrenwerten Burrus, dem Präfekten der Prätorianer) wohl auch als Regent anstelle von Nero, der sich stets lieber vergnügte als arbeitete, aber die entscheidende Frage ist: Er konnte ja nicht an diesem Hof leben und lange Zeit als Vertrauter Neros gelten (anfangs sollen die beiden einander sogar ganz gern gehabt haben), ohne von dessen Verbrechen zumindest zu wissen, wenn nicht gar beteiligt zu sein? Auch ist die Tatsache voll von Widersprüchen, dass Seneca in seinen Jahren in „Neros Diensten“ extrem reich wurde, während er stoische Ideale predigte. (Der Autor erwägt sogar ausführlich, ob Seneca als gnadenloser Geldverleiher mit starken Interessen in Britannien mitschuldig an einem dortigen Aufstand gewesen sein kann.)

Grundsätzlich hat Romm – wie alle anderen Historiker seit Jahrhunderten, eigentlich Jahrtausenden – immer dieselben antiken Quellen zur Verfügung. Seine Methode, Senecas Texte zu „befragen“, die bekanntlich gar nicht autobiographisch sind, ist zwar interessant, läuft aber letztendlich doch darauf hinaus, den umstrittenen Mann immer wieder als Heuchler zu erkennen – in scharfer Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis.

Andererseits wirft Seneca – der Karrierediplomat, der versuchte, sich nach allen Seiten abzusichern – ein in der Menschheitsgeschichte leider permanent aktuelles Problem auf: Wie überlebt man in einer Diktatur? Wobei Seneca – wie so viele andere in diesem Kapitel römischer Geschichte – ja nicht überlebt hat…

Zum Schluß noch Einwände: Ärgerlich ist der eine oder andere Fehler – Germanicus war nicht der Sohn des Agrippa (wie auf Seite 64 behauptet), sondern dessen Schwiegersohn (Gatte von dessen Tochter Agrippina), und die angebliche „Julia Silana“ (Seite 127) steht als „Junia Silana“ in der römischen Geschichte. Und ausgerechnet die vielfache Mörderin Messalina als „warmherzig“ zu bezeichnen (Seite 43)… zumal sie auch mit Intrigen hinter Senecas Verbannung nach Korsika steckte. Auch hätte man, weil der Autor logischerweise so tief in familiäre Verstrickungen hinabsteigen muss (wenn Nero die letzten Nachkommen des Augustus ermorden ließ, wären die Verwandtschaftsverhältnisse interessant), eine Stammtafel zu schätzen gewusst, die auch die weniger bekannten Mitglieder der weit verzweigten Familie umfasst. (Tatsächlich gibt es gar keinen Stammbaum zur Orientierung.)

Wichtiger noch: Vor mehr als 20 Jahren erschien in Deutschland ein Buch, das die Geschichte Senecas aus absolut ähnlichem Ansatz (auch stark das Werk interpretierend) und mit ähnlichem Ergebnis behandelte: Manfred Fuhrmanns „Seneca und Kaiser Nero“ (Berlin 1997) ist auch in Romms Bibliographie zu finden, aber vermutlich nie übersetzt worden. Und natürlich findet sich das Buch heute nur noch in den öffentlichen Bibliotheken, Privatbibliotheken derer, die an der Epoche interessiert sind, und in Antiquariaten. Dennoch, im Vergleich zu Fuhrmanns Arbeit, muss man feststellen, dass Romm an Erkenntnissen eigentlich nichts Neues zu bieten hat.

Immerhin – für jene, die der Thematik in seinem Buch erstmals begegnen, stellt er sie so spannend dar, wie es die tragische, blutige und ideologisch so aufgeheizte Geschichte verdient.

Renate Wagner

 

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