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INGOLSTADT: GINEVRA DI SCOZIA – zum 250. Geburtstag von Simon Mayr

16.06.2013 | KRITIKEN, Oper

INGOLSTADT: GINEVRA DI SCOZIA – Zum 250. Geburtstag von Simon Mayr am 14.06. 2013 (Werner Häußner)

 Auch wenn die letzten Reflexe einer überwundenen Musikgeschichtsschreibung immer noch in einigen Köpfen spuken: Es ist nicht so, dass Genies wie Verdi und Wagner vom Himmel fallen. Längst hat die seriöse wissenschaftliche Aufarbeitung den Geniekult des 19. und 20. Jahrhunderts überwunden, manchen „Kleinmeister“ rehabilitiert, vor allem deutlich gemacht, dass die unbezweifelbar großen, bestimmenden Fixsterne einer Epoche aus dem Vollen der Tradition und ihrer musikalischen Umgebung geschöpft haben.

So ist auch das Interesse an dem bayerisch-italienischen Komponisten, Pädagogen und Gelehrten Johann Simon Mayr in den letzten 20 Jahren nicht nur gewachsen, weil man in Ingolstadt und Bergamo einen peripheren Tonsetzer zum musikalischen Lokalgott hochstilisiert. Sondern weil sich – je mehr Quellen zur Verfügung stehen, desto klarer – abzeichnet, wie entscheidend Mayr die Musikwelt im Italien der Jahre 1800 bis 1825 geprägt hat, wie intensiv nicht nur sein Schüler Gaetano Donizetti auf seinen bahnbrechenden Entwicklungen aufgebaut hat. Und Verdi hat, wie wir von ihm selbst wissen, „seinen“ Mayr gut gekannt.

Das ist nun noch kein Grund, die Musik des Wahl-Italieners über den Rahmen wissenschaftlicher Studien oder Editionen hinaus in die lebendige musikalische Szene von heute einzubringen. So reizvoll ein klingendes Opernmuseum sein kann – auch das muss es hin und wieder geben –, sind derlei Wiederbelebungsversuche meist nur punktuell interessant. Der Zeitgenosse nimmt’s zur Kenntnis und wendet sich weiter.

Bei Giovanni Simone Mayr liegt der Fall anders. Das haben die Aufführungen der letzten Jahre erwiesen. Seiner „Medea in Corinto“ ging schon immer der Ruf voraus, ein zeitlos bewegendes Musikdrama zu sein. Aber es hat sich gezeigt, dass auch andere Werke Mayrs im Jetzt und Heute bestehen können. Zuletzt wurde das Anfang des Jahres mit einer Münchner Produktion von „Adelasia ed Aleramo“ bewiesen – eine Oper, deren Titel selbst Mayr-Kennern und Liebhabern nicht ohne weiteres geläufig war.

Zum 250. Geburtstag des Komponisten aus Mendorf haben die Stadt Ingolstadt – wo Mayr studiert hat –, die rührige Simon-Mayr-Gesellschaft und der Bayerische Rundfunk ein Projekt realisiert, das einen weiteren Schritt in der Mayr-Renaissance geht: In Ingolstadt wurde „Ginevra di Scozia“ konzertant aufgeführt – und das am Abend des Geburtstags. Gäste aus Bergamo, wo die Aufführung am 16. Juni wiederholt wird, und Musikfreunde aus aller Welt saßen im Publikum; die Präsenz zahlreicher Politiker aus der Region ließ den Stolz spüren, mit dem man in Mayrs Heimat seiner Person und seinem Wirken begegnet. Ein wissenschaftliches Symposion begleitete die Aufführung. Und eine örtliche Brauerei ließ es sich nicht nehmen, ein Zwickl-Bier als Simon Mayr gewidmete Jubiläums-Abfüllung zu kreieren, dessen Vorräte in der Pause bald ausverkauft waren.

Mayr als Erfüller einer Tradition, Mayr als Wegbereiter, aber auch Mayr als eigenständig originelle Persönlichkeit: Die Aufführung von „Ginevra di Scozia“ ließ den Jubilar in allen Facetten hörbar werden. Schon die Ouvertüre gab den Fingerzeig, woher Rossini seine aparte Bläserbehandlung gelernt hat, verwies im frisch erfundenen Allegro auf das Erbe Mozarts, ließ aber auch unverkennbar Mayrs Handschrift erkennen. Die Cavatina, mit der sich Ginevra vorstellt, ist Mozart, in romantischen Belcanto transferiert; diejenige ihres Gegenspielers Polinesso wird nicht nur von einem der berühmten Bläsersoli Mayrs – hier für Englischhorn – eingeleitet, sondern ist ein Beispiel für die glückliche Hand Mayrs bei der musikalischen Charakterisierung seiner Textvorlagen. Das Crescendo zum Entrée Ariodantes könnte glatt von Rossini sein – wenn der nicht erst zehn Jahre später die Bühne betreten hätte. Und die Nachtstimmung, die Mayr mit Hilfe einer betörenden Klarinette schildert, klingt so, als habe sie Weber zwanzig Jahre später in seine romantische Sphäre übertragen.

Vielleicht noch mehr als die vielen Verweise auf die Musik der Generation nach 1815 beeindrucken die beiden großen Finali, die Mayr für seine „Ginevra“ geschaffen hat. Eine Untersuchung dieser weiträumig angelegten szenisch-musikalischen Komplexe würde sicherlich den Wert, den man ihnen beim ersten Hören spontan zugesteht, vertiefend bestätigen. Mit dem sorgfältig atmosphärisch eingesetzten Männerchor und der Vielfalt der musikalischen Formen vom einfachen Secco-Rezitativ bis zum aus dem Moment entwickelten Arioso, vom Quintett bis zum – allerdings sehr traditionell gehaltenen – Schlussrondo hat Mayr alle Mittel seiner Zeit genutzt, um die Dramatik des Geschehens formal innovativ in Musik auszudrücken.

Das Münchner Rundfunkorchester macht diese erneuernde Kraft unter der Leitung von George Petrou hörbar. Petrou, der einige Erfahrung mit Mayrs Musik hat, bevorzugt gemäßigte Tempi, einen fein ausbalancierten Mischklang, ruhevolle Phrasierungen, aber auch dynamisch kraftvolle Akzente, rhythmische Prägnanz und, wo nötig, dramatische Zuspitzung. Für Solisten des Orchesters und für Konzertmeister Markus Wolf bieten sich dankbare Aufgaben: Mayr hat Flöte, Klarinette, Englischhorn, Horn, Violine und Cello bedacht. Manchmal lässt Petrou die Sänger allerdings über die Klippe der Präzision springen, etwa, wenn er dem Tenor Mario Zeffiri (Polinesso) zu wenig Zeit lässt, seine Verzierungen auszusingen. Und der großen Szene des Ariodante im zweiten Akt, die frappierend Rossinis „Tancredi“ (1813) vorwegnimmt, fehlt das locker-gelassen ausschwingende Metrum.

Mitnichten also ist „Ginevra di Scozia“ eine reine Sänger-Oper; dafür ist Mayrs Orchester viel zu sprechend, viel zu differenziert behandelt. Dennoch: Die Stimme spielt eine dominierende Rolle, der die Ingolstädter Aufführung durch eine prominente Besetzung Tribut zollt. Mit Anna Bonitatibus war die Rolle des Ariodante mit einer erfahrenen Belcanto-Gestalterin besetzt. Diesem Ritter, der einer üblen Täuschung zum Opfer fällt, gab sie eine fast gluckisch anmutende Würde, ein edles Feuer der Gefühle. Bonitatibus betont die introvertierten Seiten der Figur, die inneren Kämpfe und mühevoll der Außenwelt verborgenen Seelenqualen. Sie setzt vielfältig schattierte Piani, eine kostbar dunkle Mezzavoce, aber auch eine gespannt leuchtende Höhe ein, um den unglücklichen Geliebten Ginevras zu charakterisieren.

Anders dagegen Polinesso, Ariodantes Konkurrent und Gegenspieler: Er bringt in der schneidenden Tenorhöhe und dem Feuerwerk seiner Verzierungen zum Ausdruck, dass er ein gleißnerischer Anti-Held ist, der täuscht, enttäuscht und betrügt; ein maskierter Spieler, dem Mayr in einer Cavatina freilich auch ein menschliches Antlitz gibt und ihn damit aus dem Klischee des Bösen löst. Mario Zeffiri zeichnete sich mit einem manchmal etwas fest sitzenden Tenor als höhensicherer Gestalter aus, der seine Erfahrung mit solchen Partien in einer sorgfältigen Textausdeutung und in sicher beherrschten technischen Kniffen einbringt.

Die Titelpartie sang Myrtó Papatanasiu: Anfangs mit reichlich enger Höhe und gekappten Legato-Bögen, konnte sie sich im Lauf des Abends steigern und erfüllte vor allem die traurige, schmerzvolle Seite Ginevras mit weich geformten Piani und anmutigen, wenn auch etwas gedeckt gebildeten lyrischen Phrasen. Mit Magdalena Hinterdobler stand als Dalinda eine stimmkräftige Nachwuchs-Sängerin auf dem Podium, die als „seconda donna“ mit einem beweglichen, dramatisch zugespitzten Mezzo im Rennen um die Gunst des Publikums begeisterten Beifall gewann. Dennoch war zu bemerken, dass die Stütze nicht durchgehend gehalten, manche Töne eher mit Kraft als mit sicherer Basis heraustrompetet wurden: eine Sache der Erfahrung und Disziplin, denn das Material der Sängerin „stimmt“.

Stimmliches Überagieren war bei Stefanie Irányi als Lurcanio zu registrieren. Im redlichen Bemühen, der Partie des treuen Bruders von Ariodante emotionales Profil zu geben, gefährdet die junge Sängerin öfter ihren Stimmsitz zugunsten einer fast schon veristischen Art, mit Hilfe von Deklamation gesteigert expressiv zu wirken. Ein zuverlässiger Einspringer für den erkrankten Kay Stiefermann war der Bariton Peter Schöne als König mit einem deutlich vom Lied geprägten gestalterischen Ansatz.

Marko Cilic in der mit einer ausdrucksvollen Arie und einigen gefühlsstarken Rezitativen ausgestatteten Nebenrolle des Vafrino brachte die technischen Voraussetzungen für das Belcanto-Singen nicht mit. Sein Tenor ist nicht korrekt gestützt, die Töne werden flach oder sind unter Druck geformt, entspanntes Gestalten ist ihm nicht möglich. Auch der Männerchor des Heinrich-Schütz-Ensembles Vornbach war, wiewohl von Martin Steidler präzis einstudiert, mit seinem „weißen“ Klang nicht das Ideal eines italienischen Opernchors.

Das Fazit: Wieder einmal hat sich die Begegnung mit einer weitgehend vergessenen Oper Simon Mayrs gelohnt (die letzte Aufführung von „Ginevra di Scozia“ war meines Wissens 2001 in Trieste, wo das Werk 1801 uraufgeführt wurde). Es ist zu hoffen, dass nach dem gesteigerten Interesse aus Anlass des Jubiläums das Engagement für Mayr nicht abflaut: Der Komponist hätte es verdient, und die Gegenwart des Musiktheater wäre auf jeden Fall bereichert.

 Hinweis: Der Bayerische Rundfunk überträgt den Mitschnitt der Aufführung am 23. Juni um 19.05 Uhr in seinem Programm BR Klassik und stellt die Aufnahme als Podcast für eine Woche ins Netz (Info: www.br.de). Eine CD soll bei Oehms Classics erscheinen.

 

 

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