Foto: Frank Wittmer
Ingelheim: „RULE BRITANNIA!“ („THE BLACK KNIGHT“ und weitere Werke von Edward Elgar) 1.2.2020
Der Termin hätte nicht passender sein können: Kaum hat Großbritannien am 31.1.2020 die Europäische Union verlassen, führt das Collegium Musicum der Universität Mainz sein Publikum im Konzert- und Kongresszentrum KIng in Ingelheim am Rhein zurück in die letzte große Zeit der britischen Monarchie, die die Briten nach König Edward VII. die „Edwardische Epoche“ nennen, und beschwört mit Musik von Edward Elgar die fröhlich-patriotische Atmosphäre der „Last Night of the Proms“ herauf Doch Prof. Stefan Müller-Stach, als Vizepräsident der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität zuständig für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs, und der musikalische Leiter Prof. Felix Koch legen in ihren kurzen Begrüßungsansprachen großen Wert auf zwei Punkte: Zum einen stand der Konzerttermin viel länger fest als der von Premierminister Boris Johnson kurzfristig durchgesetzte Zeitpunkt des Brexit. Zum anderen bedauere man diesen, denn sowohl Kunst als auch Wissenschaft seien ohne engen internationalen Austausch gar nicht denkbar.
Und eigentlich geht es an diesem Abend auch nicht in erster Linie um britischen Hurrapatriotismus, sondern um eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem großen Komponisten Elgar, dem Frank Wittmer M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Collegium Musicum, auch ein ausführliches und instruktives Programmheft widmet. Das Orchester beginnt mit dem pompösen, zum diamantenen Thronjubiläum von Queen Victoria 1897 komponierten „Imperial March“ op. 32. Danach trägt der (ebenso aus Universitätsangehörigen bestehende) Chor zwei ausgewählte vierstimmige Gesänge („part-songs“) vor: „The Shower“ („Der Regenschauer“) op. 71, 1 auf einen Text von Henry Vaughan (1621-1695) beschreibt eine metaphorisch gedeutete Naturerfahrung. „Serenade“ op. 73,2, verfasst auf die englische Nachdichtung eines russischen Gedichtes von Nikolai Maximowitsch Minski (1855-1937) durch die englische Musikschriftstellerin und Russland-Expertin Rosa Newmarch (1857-1940), ist trotz des eher heiteren Titels eine nachdenkliche Meditation über Träume. (Im Programmheft finden wir nicht nur den englischen Text, sondern auch eine eigens angefertigte deutsche Übersetzung.) Sauber, durchhörbar, ausdrucksvoll und mit überzeugendem Spannungsbogen tragen die etwa 100 Sängerinnen und Sänger die beiden Gesänge vor. Der erste, eher in sich ruhend, erinnert im Stil an Johannes Brahms, der zweite, dem Text entsprechend ein wenig nervös, weist im Stil schon voraus auf die neobarocke Polyphonie des Neoklassizismus (wie etwa bei Hugo Distler).
Man soll das nicht übersehen: Elgar, der einem leicht als die Inkarnation eines typischen britischen Komponisten erscheint, hatte eine starke Neigung zur deutsch-österreichischen Musiktradition. Als Jugendlicher träumte er davon, am Leipziger Konservatorium zu studieren; doch erst 1882 führte ihn seine zweite Auslandsreise in die sächsische Musik-Hochburg, wo er mit seiner zeitweiligen verlobten Helen Weaver ins Konzertleben eintauchte und viel Musik, vor allem von Robert Schumann, hörte. 1893 und 1894 machte er mit seiner Frau Alice Urlaub im bayerischen Garmisch und schrieb 1895 einen sechsteiligen Zyklus „Scenes from the Bavarian Highlands“ für Chor und Orchester, den sein Verleger Novello als unverkäuflich ablehnte. Seine Ouvertüre „Cockaigne“ op. 40 mit dem Untertitel „In London Town“ ist dagegen das musikalische Porträt einer Metropole wie später George Gershwins „An American in Paris“ oder Darius Milhauds „A Frenchman in New York“. (Elgar, ein Mann der mittelenglischen Provinz, der sich persönlich in London gar nicht besonders wohl fühlte, benutzte dabei den seinerzeit gängigen Spitznamen der Hauptstadt, der soviel bedeutet wie „Schlaraffenland“.) Felix Koch, zu dessen Aufgaben auch das Fach Konzertpädagogik an der Mainzer Musikhochschule gehört, ließ es sich nicht nehmen, dem Publikum das selten gespielte Werk vorab in Auszügen zu präsentieren. Tatsächlich dürfte es schwer sein, ohne Vorbereitung die Details von Elgars musikalischem Stadtspaziergang wahrzunehmen: Pfeifende Straßenjungen, ein Liebespaar im Park, das Betreten einer Kirche, eine vorbeiziehende Militärkapelle, die Heilsarmee mit klappernder Spendenbüchse, das Wiehern von Pferden. All das ist aber, wie die Aufführung zeigte, so geschickt in die Gesamtstimmung eingebettet, dass man die Aussage des Elgar-Biographen William Henry Reed nachvollziehen kann, „Cockaigne“ beschwöre das Edwardianische London ebenso brillant herauf wie Wagners „Meistersinger“-Ouvertüre das mittelalterliche Nürnberg.
Das zentrale Werk des Abends ist „The Black Knight“ op. 25, hierzulande nahezu unbekannt und auch in England erst in den 1990er Jahren wiederentdeckt. Es handelt sich um eine sorgfältigst ausgearbeitete dramatische Chorballade mit Orchester von sinfonischer Dimension. Der Komponist überschrieb sein Manuskript vorsichtig mit „(Versuch einer) Ballade für Chor und Orchester“, plädierte dann für die Bezeichnung „a choral symphony“ („Chor-Sinfonie“, vielleicht nach dem Vorbild von Felix Mendelssohn Bartholdys „Lobgesang“) und musste dann auf Druck des Verlegers mit der (etwas tiefgestapelten) Titulatur „Kantate“ vorlieb nehmen. Zugrunde liegt eine deutsche Dichtung; Die Ballade „Der schwarze Ritter“ des schwäbischen Dichters Ludwig Uhland (1787-1862). Sie kommt im deutschen Original sprachlich etwas unbeholfen und staksig daher; die von Elgar vertonte Übersetzung des US-amerikanischen Dichters Henry Wadsworth Longfellow (1807-1882) ist eleganter. Doch der Komponist, der ohnehin nichts davon hielt, erstklassige Literatur zu vertonen, die für sich selbst schon Musik sei, fand darin vor allem ein spannendes Szenario. Erste Entwürfe gehen schon auf das Jahr 1879 zurück; uraufgeführt wurde das Werk aber erst 1893 in der Kathedrale von Worcester durch den Organisten und Leiter der Worcester Festival Choral Society Hugh Blair, der den Komponisten erst zur Fertigstellung ermutigt hatte.
Die unheimliche Geschichte vom schwarzen Ritter, der als Überraschungsgast ein königliches Fest besucht und hinter dem sich niemand anders als der Tod verbirgt, ist ein frühes Zeugnis der sogenannten Schwarzen Romantik, zu der auch die englische „gothic novel“ gehört. Doch obwohl Uhland ein märchenhaftes Mittelalter beschwört, ist seine Ballade nicht ohne historische Anknüpfungspunkte. Dem Beitrag von Richard Smith über das Werk im „Elgar Society Journal“, Bd. 18 Nr. 4 vom August 2014, nach gibt es eine entsprechende Überlieferung zu König Alexander III. von Schottland (1241-1286). Interessanter für das Mainzer und Ingelheimer Publikum wäre vielleicht noch ein regionaler Bezug: Pfingsten 1184 nämlich veranstaltete Kaiser Friedrich Barbarossa auf der Mainzer Maaraue, einer Insel in der Mündung des Mains in den Rhein, einen großen repräsentativen und Aufsehen erregenden Hoftag mit Gottesdienst, Bankett, Empfängen und Pferdeturnieren, für den eigens eine Stadt aus Holz und Zelten mit Palast und Kirche errichtet wurde. Die Mainzer Festlichkeiten (mit laut Überlieferung 20000 Teilnehmern) sollten mit Kampfspielen bei der Kaiserpfalz im nahegelegenen Ingelheim fortgesetzt werden, wurden aber abgebrochen, nachdem ein Unwetter zu Zerstörungen und Todesopfern führte. In Uhlands Ballade sind es Sohn und Tochter des betagten Königs, die den Besuch des schwarzen Ritters nicht überleben.
Ob man Musik vorab erklären muss, oder ob sie aus sich heraus wirken soll, ist immer wieder eine Streitfrage. Felix Koch jedenfalls stellt vor der Pause „The Black Knight“ ausführlich in musikalischen Auszügen vor – erklärtermaßen, um das Publikum auf Feinheiten der bislang ungehörten Partitur aufmerksam zu machen. Manch einem Zuhörer wurde das zu viel, und vielleicht wäre angesichts einer Konzertlänge von 2 Std. 50 Minuten das eine oder andere Detail entbehrlich gewesen. Die eigentliche Aufführung nach der Pause bewies nämlich einmal mehr, dass der musikalische Leiter des Collegium Musicum nicht nur erklären, sondern auch packend musizieren kann. Nicht weniger beeindruckend war, mit welcher technischen und expressiven Souveranität das aus ambitionierten Laien und Halbprofessionellem bestehende Orchester seinen anspruchsvollen Part absolvierte. Einen knappen Eindruck von der Arbeit vermittelt ein kurzes Youtube-Video vom Probenwochenende des Collegium Musicum auf der pfälzischen Burg Altleiningen. (Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=fIqTIi0rb-Q) Hier erblickt man zusätzlich im Hintergrund einen dreijährigen Buben, der in der Maske eines schwarzen Ritters eifrig mitdirigiert. Fynn Bradler, so berichtete mir am Rande des Konzerts sein Vater, hatte die in der Jugendherberge erhältliche Maske von seinen Eltern bekommen und sich dann so sehr von Elgars Musik faszinieren lassen, dass er eine halbe Stunde lang den Proben beiwohnte, es dem musikalischen Leiter taktschlagend nachtat und damit zum Glücksbringer des Ensembles brachte. Beim Konzert saß er mitsamt seinen Eltern rechts im Rang mit bestem Blick auf Dirigent und Orchester und wurde von Koch als Ehrengast begrüßt.
Diese Geschichte verrät viel über die unmittelbare Faszination, die klassische Musik auf Kinder ausüben kann,und sie erzählt auch davon, wie man diese nachhaltig fördern könnte. (Obwohl Fynn Hubschrauberpilot werden möchte, wie er mir auf Nachfrage erklärte.) Aber sie wirft natürlich auch die Frage auf nach dem ästhetischen Abstand zwischen Elgars Musik und einer billigen Verkleidung, wie sie im Umfeld von Halloween im Internet-Horror-Shop oder am Tresen der Jugendherberge feilgeboten wird. Interessanterweise führt diese Frage direkt auf die besondere Qualität von Elgars Musik. Er hätte sie als musikalisches Schreckensgemälde anlegen können wie Carl Maria von Weber die „Wolfsschlucht“-Szene im „Freischütz“ oder Hector Berlioz das Finale der „Symphonie Fantastique“. Doch als musikalische Vorbilder hören wir eher Mendelssohn, Schumann und Brahms, Wagner und vielleicht auch schon Richard Strauss heraus – also jeweils Komponisten mit hohem sinfonischen Anspruch, wenn auch aus unterschiedlichen ästhetischen Lagern. Brahms steht eher für tönend bewegte Form und sinfonische Ordnung, Wagner mehr für tongewordenes Drama und sinnliche Überwältigung. Elgar, dem der sinfonische Anspruch des Werkes so wichtig ist, liest also Uhlands Ballade eben nicht als simples Schauerstück, sondern als Einbruch des Schreckens in eine bestehende Ordnung, die er durch die traditionelle sinfonische Viersätzigkeit auch bewusst markiert.
Frohgemut und hochgestimmt fängt die Musik an, ganz entsprechend Uhlands Beginn: „Pfingsten war, das Fest der Freude“. Es klingt ein bisschen nach „Meistersinger“-Festwiese. Mit Freude beobachtet der alte König vom Balkon der Hofburg, wie sein tapferer Sohn beim ritterlichen Turnier einen Gegner nach dem anderen schlägt. Noch ist, wie die Wiederkehr des Eingangsthemas zeigt, alles in Ordnung. In der 2. Szene tritt der unbekannte schwarze Ritter auf. Er gibt sich nicht zu erkennen, hebt aber mit dem ersten Stoß den Prinzen derart vom Sattel, dass dieser kaum mehr aufzustehen vermag. Eine unerwartete Generalpause, ein Todesthema mit verminderten Intervallen, auf- und absteigende chromatische Linien und ein in Töne übersetztes Erdbeben markieren den jähen Einbruch des Schreckens. Aber darunter liegt weiter die festlich-ritterliche Grundstimmung; denn natürlich wahrt man am Hof die Form (wie heuer nach Möglichkeit noch am Hofe der Windsors und generell im viktorianischen und edwardianischen England). Wie gewöhnlich lädt also der König in der 3. Szene zum festlichen Tanz. Doch leise wispernde Chorstimmen verraten Nervosität, und der schwarze Ritter tanzt mit der Königstochter einen grotesken Walzer mit seltsam klagender Oboe, bis ihr durch Flöten-Girlanden illustrierter Blumenschmuck welk zu Boden fällt.
Es folgt protokollgemäß das traditionelle Bankett zu Ehren des Siegers: Der 4. Satz beginnt mit einem gewaltigen Paukenschlag, doch dann folgt eine gefasste, melancholisch gefärbte Musik für den Einzug der Gäste. Der König bangt um seine Kinder, denen der schwarze Ritter einen Becher Wein bietet; aber es gehört zu seiner Rolle, sich nichts anmerken zu lassen. Sohn und Tochter danken dem Gast noch höflich für den kühlen Trank und sinken tot an des Vaters Brust. Fallende Flötenfiguren und nervöse Streicher kündigen das Unheil an; die Sterbeszene singt der Chor fast unbegleitet, gefolgt von einem ungeschützt wirkenden Violinsolo. Aus dem Zittern der Bratschen erhebt sich der Protest des Vaters: Warum der Tod nicht ihm das Leben nehme? Im Chor hallt mehrfach dessen Antwort nach: „Greis, im Frühling brech ich Rosen.“ Nach einem orchestralen Aufschrei folgt die zaghafte, deutlich eingetrübte Wiederkehr des Pfingstthemas, und mit der Wiederholung der Chorpassage „im Frühling“ blendet die Szene im Decrescendo aus. Hier braucht man gar kein Ritter-Szenario mehr, um die allgemein-menschliche Dimension im Umgang mit einem unerwarteten Schicksalsschlag zu sehen. Im Journal der Elgar Society weist Richard Smith sogar auf einen biographische Aspekte hin: Elgar musste in jungen Jahren, 1864 und 1866, zweimal den Tod eines seiner Brüder verkraften, und es gibt dazu einen Brief seiner Schwester Lucy, in dem sie das Bild vom beschnittenen Rosenstock benutzt, der wieder austreibt.
Ein wenig ironisch mutet da die Dramaturgie des Konzertes an, die mit Thomas Arnes Ode „Rule Britannia“und Elgars berühmtem „Pomp and Circumstance March“ No.1 op 39 zum Abschluss die großen Zeiten Großbritanniens wieder heraufbeschwört. „Rule Britannia“- hat der Mainzer Musikwissenschaftler und Arrangeur Wolfgang Birtel, der im Konzert selbst an der Bratsche sitzt, geschickt für große sinfonische Besetzung arrangiert. Alle Instrumentengruppen haben etwas zu tun, ohne dass der Satz zu dick wird oder gar den Chor zudeckt. Den Sopranpart hat Elisabeth Scholl, Professorin an der Mainzer Hochschule für Musik, übernommen. Sie hat sich für ihren Auftritt in die britische Flagge gehüllt, und auch der Chor schwenkt kleine Fähnchen mit dem Union Jack. Sie hat allerdings auch eine neue vierte Strophe aus kontinentaler Sicht mitgebracht: “But now you leave us, we are sad. / We truly think that this decision was bad. / However, we wish you prosperity that never ends. / Remember: Europeans are Your friends!” Dabei unterbricht sie protestierend der Chor, jetzt ganz auf Brexit-Linie, und sie ruft “Order” – ganz im Tonfall des langjährigen Unterhaus-Sprechers John Bercow, der auch in Deutschland inzwischen eine gewisse Popularität genießt. Bei “Pomp and Circumstance” No 1 darf das Publikum die Hymne “Land of Hope and Glory” mitsingen und nun auch selbst die britische Flagge schwingen, die praktischerweise die Rückseite des Programmheftes ziert. Den Liedtext finden wir auf eine große Leinwand oberhalb der Bühne projiziert. So kräftig sollen wir singen, dass man es in der Londoner Downing Street No. 10 hört, wünscht sich Felix Koch. Wir tun allesamt unser Bestes, auch als das Lied am Ende eine heikle Quinte höher wieder auftaucht.
Kurios ist es schon, wie das deutsch-internationale, universitär geprägte Publikum im Ingelheimer KIng sich „superbritisch“ gibt. Doch hat der Mensch nicht oft mehrere Heimaten? Mir kommt in den Sinn, mit welcher Faszination ich 1975 in England vor dem Fernsehgerät erstmals die Londoner „Last Night of the Proms“ erlebte – teils amüsiert über die karnevalistische Note der Veranstaltung, teils gerührt von der Hingabe des Publikums. Ähnlich kann auch der zugewanderte Mainzer während der Faschingssaison in einer der traditionellen Fastnachtssitzungen sitzen, beim Singen des Liedes „Wir alle leben im Schatten des Doms“ sich eine Träne der Rührung aus dem Auge wischen und die klischeehaften Witze über die Stadt Wiesbaden auf der anderen, der „falschen“ Rheinseite beklatschen – ohne das Jahr über verkrampft das Wiesbadener Staatstheater boykottieren und vor der Mainzer Provinzialität die Augen verschließen zu müssen. Gerade in einer Zeit, in der immer mehr Menschen wütend auf ihre eigene Identität pochen und diese sehr eng auslegen, tut es gut, einmal wieder augenzwinkernd in eine andere Rolle zu schlüpfen. Und so kommt der Abend genau richtig, drei Wochen vor Rosenmontag, und wir hoffen, dass es Herrn Johnson kräftig in den Ohren geklungen hat.
Andreas Hauff