Wiedereröffnung des Theaters Heidelberg: „Mazeppa“ von Peter Iljitsch Tschaikowsky (Premiere: 24. 11. 2012)
Die Einkleidung der Solisten – wie im Bild von Hye-Sung Na – erfolgte während der Ouvertüre auf der Bühne (Foto: Florian Merdes)
Nach mehr als dreijähriger Umbauzeit wurde das Theater Heidelberg am 24. November 2012 wiedereröffnet. Auf nun einer der modernsten Bühnen Deutschlands wurde als Premierenvorstellung die Oper „Mazeppa“ von Peter Iljitsch Tschaikowsky gespielt. Das dreiaktige Werk, dessen Libretto der Komponist gemeinsam mit Viktor Burenin nach der Dichtung Poltawa von Alexander Puschkin verfasste, wurde 1884 im Moskauer Bolschoi-Theater uraufgeführt.
Die Handlung der Oper kurz zusammengefasst: Mazeppa liebt Maria, die Tochter Kotschubejs, wird aber von ihrem Vater abgewiesen, da er ihm als Bräutigam zu alt erscheint, worauf Maria das Elternhaus verlässt. Der von Maria verschmähte Andrej verrät Zar Peter I. Mazeppas Plan, sich den Schweden anzuschließen. Inzwischen hat Mazeppa beim Zaren Kotschubej verleumdet, worauf dieser gefoltert und hingerichtet wird. Maria und ihre Mutter, die zu spät vom Todesurteil erfahren, können nicht mehr eingreifen. Auf der Seite Peters I. kämpft Andrej gegen die Schweden, die geschlagen werden. Im Kampf wird Andrej von Mazeppa erschossen, worauf die mittlerweile geistesverwirrte Maria den einstigen Jugendfreund in den Tod singt.
Schon zur Ouvertüre bietet die Regisseurin Elisabeth Stöppler dem Publikum die erste Überraschung: Der Vorhang hebt sich und die Solisten des Sängerensembles stehen nackt bis auf Unterhose und Hemdchen auf der Bühne, um von Garderobieren für das Stück eingekleidet zu werden. Mein erster Gedanke war: Oje, die Garderoben sind bis zur Wiedereröffnung des Theaters nicht bezugsfertig geworden! Mein zweiter Gedanke war dann der richtige: Die Regisseurin will alles neu und anders machen. Und in diesem Moment erinnerte ich mich wehmütig an die hervorragende Inszenierung des Werks von Peter Stein vor einigen Jahren in Lyon.
Als die Sängerinnen und Sänger eingekleidet waren, stürmte ein Bühnenarbeiter herein und schoss dem Darsteller des Kotschubej ins Knie, worauf ein Rollstuhl auf die Bühne geschoben wurde. Es sollte das einzige Requisit bleiben, das im Verlauf der Vorstellung, in der noch mehrmals von Schusswaffen Gebrauch gemacht werden sollten, von anderen Darstellern benützt wurde. Wenig später kam ein Fernsehteam mit einer fahrbaren Kamera auf die Bühne. Ein Regie-Gag, der in letzter Zeit in Mode gekommen ist (erst am Vortag erlebte ich in Mainz dasselbe!). Dass all diese krausen Ideen die Musik eher stören, sollte sich inzwischen bei Regisseuren und Operndirektoren herumgesprochen haben.
Über so manchen symbolhaften Gag – Marie stopft sich in Sehnsucht nach einem Kind fortwährend einen Polster unter ihr Kleid, Tierköpfe (Adler, Wolf) werden des Öfteren als Masken übergestülpt– möge der Mantel des Vergessens gebreitet werden. Für den Schluss der Oper hatte sich die Regisseurin noch ein paar Besonderheiten einfallen lassen, die sie in einem im Programmheft abgedruckten Interview mit dem Operndirektor Heribert Germeshausen erläuterte: „Seit Beginn unserer Arbeit an MAZEPPA fanden wir, dass die Eröffnung eines neuen Theaterraums nicht nur eine immense Herausforderung darstellt, sondern auch – wie eigentlich jede Geburt – ein großes Fest ist, eine Ein-Weihung, in dem der neue Raum für das Publikum erlebbar gemacht werden muss. Wir haben daraufhin versucht, einen Bühnenraum zu erfinden, der zunächst von den Figuren der Oper ausgeht und in welchem diese Figuren aufgehoben sind. Einen Raum der »fließt, indem sich die einzelnen Stationen auseinander ergeben, eines in das andere diffundiert. Im Sinne der »Emanzipation» Marias – denn so deute ich ihren Wahnsinn am Ende des Stücks, als Erkenntnis, als Hellsichtigkeit – wird sich dieser Raum im Laufe der Handlung »entleiben« (so wie alle Figuren außer Maria). Sowie Maria in eine neue Ebene übergeht, transzendiert und frei wird, so weichen letztlich die Kulissen dem Bühnenhaus eines neuen Theaters. Das Alte wird heruntergerissen, fällt ab, damit das Neue sichtbar wird und strahlen kann.“
So wird gegen Ende der Vorstellung die ganze Bühne leergefegt, auch die Silberbänder, die wie ein Vorhang von der Decke herabhingen, werden von Bühnenarbeitern sorgfältig eingerollt und die Darsteller inklusive Statisten ihrer Kleidung (bis auf Unterhose und Hemdchen) „beraubt“. Dafür erhebt sich der Darsteller des inzwischen verstorbenen Andrej vom Boden, wird an eine Trapezstange gekettet und in den Himmel emporgezogen. Eine fast blasphemisch anmutende Szene…
Für die „minimalistische“ Bühnengestaltung zeichnete übrigens Karoly Risz, für die vorwiegend dunkel gehaltenen Kostüme Katharina Gault verantwortlich.
Dass die Vorstellung trotz allem ein musikalischer Erfolg wurde, war neben dem ausgeglichenen Sängerensemble dem Philharmonischen Orchester Heidelberg und ihrem neuen Generalmusikdirektor Yordan Kamdzhalov, dem Nachfolger von Cornelius Meister, der seit kurzem das ORF-Radiosymphonieorchester erfolgreich leitet, zu danken. Immer wieder kam die rauschende Partitur Tschaikowsky herrlich zum Erblühen und erfreute das gebannt lauschende Premieren-Publikum. Ob die Idee, neun Bläser und einen Paukisten erst aus dem Vorraum bei geöffneten Türen und dann an der Bühnenrampe spielen zu lassen, gut und (oder) notwendig war, bleibe dahingestellt.
Zur eigentlichen Hauptperson dieser Inszenierung (in russischer Sprache mit deutschen Übertiteln) wurde die zum Schluss vom Wahnsinn befallene Marie, die von der koreanischen Sopranistin Hye-Sung Na mit großem Einsatz gespielt und dramatischer Stimme gesungen wurde. Eine beeindruckende Leistung, die ihr verdientermaßen einige Bravorufe einbrachte. Von starker Ausdruckskraft waren auch die Darsteller des Mazeppa und seines Gegenspielers Kotschubej beseelt. Der Bariton James Homann, eine Hüne an Gestalt, verkörperte Marias Patenonkel Mazeppa, den Anführer der ukrainischen Kosaken, mit großer Bühnenpräsenz, der über Leichen geht. Opfer seiner poltischen Ambitionen ist Marias Vater Kotschubej, der vom Bass Wilfried Staber mit enormem körperlichen Einsatz – erst im Rollstuhl, dann vor seiner Hinrichtung gefoltert und nochmals angeschossen – und mächtiger Stimme eindrucksvoll dargestellt wird.
Die Mezzosopranistin Anna Peshes in der Rolle der Mutter Ljubow hatte ihre großes Szene als „Rache-Engel“, der Tenor Mikhail Vekua als Andrej beeindruckte in seiner Todesszene, die er beklemmend zu gestalten wusste. Vorher legte er unnötigerweise zu viel Kraft in seine Stimme. Die zwei kleineren Rollen des Iskra und des betrunkenen Kosaken wurden zusammengelegt und vom Tenor Namwon Huh gespielt, dem Diener Orlik lieh Michael Zahn seinen kraftvollen Bass. Sehr dramatisch und stimmgewaltig agierte der Chor und Extrachor des Hauses (Chordirektion: Jan Schweiger).
Das sich in Festtagsstimmung befindende Publikum belohnte alle Mitwirkenden, wozu in dieser Inszenierung neben den Statisten viele Bühnenarbeiter zählten, die sich des Öfteren während der Aufführung auf der Bühne tummelten, aber auch erstaunlicherweise das Regieteam mit lang anhaltendem Applaus. Noch in der Pause diskutierten viele Besucher über die „merkwürdigen“ und „seltsamen Ideen“ der Regisseurin. Doch kein Buhruf störte die große Eröffnungspremiere des schmucken und eleganten Theaters Heidelberg.
Udo Pacolt, Wien – München