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HALBERSTADT: DER VAMPYR von H. Marschner. Premiere

28.10.2012 | KRITIKEN, Oper

HALBERSTADT: DER VAMPYR von Heinrich Marschner am 26.10. 2012– Premiere (Werner Häußner)

 Ende der siebziger Jahre sagte ein kluger, von mir sehr geschätzter Regisseur einmal in einem Gespräch, „Der Vampyr“ ließe sich nur noch als Thriller oder als Parodie aufführen. Diese Epoche des anbrechenden Regietheaters war außerstande, in Heinrich Marschners romantischen Opern mehr zu sehen als die abgelebten Äußerungen einer vergangenen Epoche der Geistesgeschichte. Zwischen Rationalismus und Sozialismus, Destruktion der Transzendenz und psychologischer Dekonstruktion war für die bleichen Helden aus der Tradition eines Lord Byron, für die ahnungsvollen Zwischenreiche oder die abgründigen Visionen eines E.T.A. Hoffmann kein Platz. Gleichzeitig aber entstanden zwischen Parodien und Grusel-Popanz ein zukunftsweisender Film wie Werner Herzogs „Nosferatu“ (1979) oder die reduzierte, aber alle dunklen Tiefen abschreitende „Freischütz“-Inszenierung von Christof Nel in Frankfurt (1983).

Entsprechend selten sind bis heute ernsthafte Auseinandersetzungen mit Marschners Meister-Trilogie geblieben. „Der Vampyr“ wird noch am häufigsten inszeniert und hat – etwa 2003 in Freiburg durch Andreas Baesler oder 2008 in Würzburg durch Stephan Suschke – beachtliche Deutungen erfahren. „Hans Heiling“ dagegen fehlt seit Jahren auf den Opernbühnen; der letzte Versuch an der Deutschen Oper Berlin 2001, immerhin unter Christian Thielemann, war eher ein klägliches Scheitern. Für „Templer und Jüdin“ sieht die Bilanz noch trauriger aus. Bis auf eine Version in Gießen im Jahr 2000, die an der komplexen Dramaturgie des Stücks scheiterte, und einer Inszenierung in Wexford/Irland 1989 sind keine Versuche einer szenischen Rettung bekannt.

Dazu kommt, dass es von dieser Trias, die im 19. Jahrhundert eine eminente Bedeutung für die Bühne hatte, kein befriedigendes Aufführungsmaterial gibt – von kritischen Editionen ganz zu schweigen. Der Münchner Musikologe Egon Voss arbeitet wenigstens für den „Vampyr“ an einer wissenschaftlich fundierten Ausgabe. Für die Theaterpraxis ist dadurch noch nichts gewonnen. Ein Zustand, den man nur als beschämend empfinden kann – auch angesichts dessen, was an akribischer
Untersuchungs-Energie zur Klärung letzter Detailfragen bei breit erforschten Komponisten aufgewendet wird. Das Wagner-Jahr 2013 wird dafür weitere Belege liefern.

So bleibt es im Falle Heinrich Marschners bei verdienstvollen, aber letztlich begrenzten Bemühungen kleiner Theater, die mit solchen Produktionen einen Beweis dafür liefern, dass die – relativ geringen – Subventionen, die für sie aufgebracht werden, gut angelegt sind. Ein Operntanker wie Leipzig – wo der „Vampyr“ 1828 uraufgeführt wurde – hielt es weder 1995 zum 200. Geburtstag Marschners noch 2011 zum 150. Todestag für nötig, eine seiner Opern aufzuführen. Ebenso vergaß die Staatsoper in Hannover ihren langjährigen Hofkapellmeister.

Nun also wieder einmal „Der Vampyr“: in Halberstadt. Das Nordharzer Städtebundtheater, gerade erneut von schleichender Ausblutung durch Kürzungen vergleichsweise minimaler Summen bedroht, hat den Regisseur Hinrich Horstkotte mit einer Neuinszenierung betraut. Horstkotte ist beim Publikum in der Region offenbar beliebt; Marschners Oper ist seine sechste Inszenierung am Haus und im Premierenpublikum war die erwartungsfrohe Spannung zu spüren. Das
kleinstädtische Theater-Ambiente verträgt keine radikalen Neudeutungen, und so beschränkte sich Horstkotte darauf, die Geschichte behutsam akzentuiert zu
erzählen. Seine Bühne greift die verfallene Gotik romantischer Stiche auf, stellt sie wie eine schlecht gemalte Kulisse eines alten Gruselfilms hin, formt einen Raum, der als Gruft wie als Schlosshalle der Atmosphäre dient.

Horstkotte erzählt eine Biedermeiertragödie, die im Abstand von fast 200 Jahren zum Teil zur Komödie wird. Das geschieht nicht nur unfreiwillig, sondern folgt einem Plan. Den poetischen Erscheinungen der drei Bräute, die dem Vampyr zum Opfer fallen, stehen die Väter und Säufer gegenüber, mit schlohweißen Haaren, hohen Zylindern und Schotten-Mustern. Aubry, der tenorale Gegenspieler des blutsaugenden Lord Ruthven, tritt im Abklatsch eines Tartans auf; der Vampyr selbst als düster-elegante Erscheinung mit einem Kragen schwarzer Hahnenfedern am Mantel.

Im Finale, wenn es Eins schlägt und Aubry, von seinem verhängnisvollen Schweige-Schwur befreit, endlich die Identität des „Scheusals“ lüften kann, soll dieses Requisit bedeutend werden: Es bleibt als leere Hülle des verschwundenen Vampyrs am Boden liegen und wird, wie absichtslos, dem Schützer und Geliebten Malwinas überreicht. Doch Aubry, zu guter Letzt noch durch den Biss des Vampyrs infiziert, holt seine Braut ins Reich der Blutsauger, während der Chor die Hymne von der „Gottesfurcht im frommen Herzen“ schmettert.

Dass sie unter uns sind, dass wir es mit einer von Untoten bevölkerten Welt zu tun haben, wird in der Inszenierung von Anfang an angedeutet und spätestens mit Beginn des zweiten Akts klar: Da sitzt unter den Zechern ein Rothaariger mit blutroten Krallen und bleckt die Beißer. „Im Herbst, da muss man trinken“ – das berühmte Quartett – erhält so eine hintersinnige Bedeutung. Wie Marionetten oder wie die „Automaten“ E.T.A. Hoffmanns bewegen sich die Menschen: Keiner mehr ist frei vom Einfluss der dunklen Gestalt aus einer anderen Sphäre. Horstkotte lässt die Welten ineinander fließen; am Ende sind alle Vampyre – der Regisseur eingeschlossen, der beim Beifall auch die Fangzähne zeigt.

Am Ende bleibt aber auch das Konzept mit seinen Zitaten aus Biedermeier, Stummfilm und alter Theaterkonvention verschwommen, reicht über eine kurzweilige, skurril-gruslige Geschichte nicht hinaus. Manchmal meinte man, Ansätze einer gedanklichen Weiterführung zu erkennen. Etwa wenn beim – vom Bearbeiter Hans
Pfitzner
verstümmelten – Gebet der Malwina der Schatten Lord Ruthvens entflieht. Oder wenn bei Emmys unheimlicher Ballade vom bleichen Mann im Hintergrund geisterhafte Bräute wandeln. Auch wenn Malwina kurz vor dem Ende in strahlendem Licht ihre Hoffnung verkündet, könnte sie ihn ihrem „Noch lebt ein Gott“ der Keim einer Deutung legen. Das Abgründige, mit dem etwa Werner Herzog das Erwachen des Vampyrs Jonathan Harker gezeigt hat, holt die Halberstädter Inszenierung nicht ein: Es bleibt bei der Horrorkomödie á la „Tanz der Vampire“.

Musikalisch finden wir am Nordrand des Harzes ein Orchester, das hin und wieder mit interessanten Klangmischungen aufwartet und sich nie zu laut in den Vordergrund spielt. Aber die Musiker unter Leitung von MD Johannes Rieger – sein Vater Fritz Rieger hat einst die wohl beste „Vampyr“-Aufnahme beim
Bayerischen Rundfunk eingespielt – kommen bei fast jeder anspruchsvollen Stelle aus dem Tritt. Rieger wählt nicht immer schlüssige Phrasierungen, aber angemessene Tempi. Und er versucht, Marschners Musik im Lichte ihrer fortschrittlichen Seiten, nicht ihrer kapellmeisterlichen Reminiszenzen zu lesen. Das gelingt zum Beispiel in der grandiosen Szene des zweite Akts, in der Lord Ruthven sein eigenes Schicksal schildert. Jan Rozenahls kleiner Chor versucht, aus den misslichen akustischen Umständen der kleinen Bühne das Beste zu machen.

Unter den Sängern profilieren sich die Damen, vor allem Bettina Pierags als Malwina: Sie kennt das lyrische Schwärmen ebenso wie die dramatische Attacke
und singt die Braut, die am längsten Widerstand leistet, ohne Forcieren, mit stets rundem, gestütztem Ton. Die Emmy Annabelle Pichlers überzeugt im halb theatralisch, halb verängstigt vorgetragenen Tonfall ihrer berühmten, leider auf zwei Strophen gekürzten Ballade. Die Wandlung von der neckischen Braut zum traurigen Mädchen, das schließlich der Magie des düster-eleganten Lords verfällt, zeigt sie mit Anmut. Auch das erste Opfer, Janthe, wird von Nina Schubert mit
leichtem, wenn auch etwas gebrochen timbrierten Sopran, glaubhaft dargestellt.

Schwerer hat es Juha Koskela als Lord Ruthven. In seiner Eröffnungsarie „Ha, welche Lust“ singt er oft kurzatmig und drängelnd, mit flatternd-ungestütztem Vibrato und zu wenig Farben für die unterschiedlichen Emotionen. Im Lauf des Abends fängt sich der finnische Bariton und kommt im zweiten Akt zu einer stimmlich abgesicherten Identifikation mit seiner Rolle, die den Zuschauer in seinen Bann schlägt. Tobias Amadeus Schöner als Aubry kämpft mit den Ansprüchen der Partie: ein zu grell emittierter Tenor mit störend dominantem Metall. Klaus-Uwe Rein deklamiert den Vampyrmeister, als wolle er eine Persiflage einleiten.
Unter den zahlreichen kleineren Rollen gab es viel Schatten, aber auch Licht – etwa bei Xiatong Hans George und Klaus-Uwe Reins Tom Blunt. Festzuhalten
ist: Halberstadt hat sich mit viel Engagement eines vernachlässigten Werkes angenommen und damit ein günstiges Licht auf die Leistungsfähigkeit kleiner
Bühnen geworfen. Wer das missachtet, nimmt der Kultur unseres Landes Wesentliches weg.

 

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