Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

GELSENKIRCHEN: THE TURN OF THE SCREW. Premiere

12.09.2016 | Oper

GELSENKIRCHEN: THE TURN OF THE SCREW          Premiere am 10. September

Übernatürliche Mächte, Geister und Dämonen gelten für viele Menschen noch heute als existent. Religiöser Glaube oder halluzinatorischer Wahn? Die Figuren von Peter Quint und Miss Jessel in dem 1898 entstandenen Roman „The Turn of the Screw“ von Henry James sind nicht eindeutig zu fassen, aber sie symbolisieren vor allem eines: die Gefährdung von (vor allem kindlicher) Unschuld in dieser Welt. Von dieser Vorstellung scheint Benjamin Britten nachgerade traumatisiert gewesen zu sein, wie auch die „Turn of the Screw“ vorangehende Oper „Billy Budd“ nachdrücklich beweist. In sublimer Form wird das Thema in Brittens letzter Oper „Death in Venice“ noch einmal abgehandelt.

Die in diesem Werk praktisch unumwunden eingestandene homoerotische Geprägtheit Brittens darf man in seinen frühen Opern zumindest als angedeutet empfinden. In „Turn of the Screw“ muss zudem auffallen, dass die kleine Flora im Vergleich zu Miles eine letztlich nur sekundäre Figur ist und vom Schicksal ihres Bruders kaum von ungefähr verschont bleibt. Miles wird in seiner Schule eines schlechten Einflusses bezichtigt (worin er besteht, bleibt offen, was letztlich zweitrangig ist), er macht sich gegenüber der jungen Gouvernante schuldig, indem er ihren Verzweiflungsbrief an den Vormund der Kinder vernichtet, er singt (Opernhinzufügung) das seltsame „Malo“-Lied, im Ausdruck zwischen Himmel und Hölle changierend.

Von den einstigen Bediensteten im Schloss Bly wird Quint in der Oper besonders hervorgehoben, seinem dämonischen Einfluss mehr Raum gegeben als dem von Miss Jessel, trotz der markanten Szene, wo sie das (ihr früher gehörende) Zimmer der Gouvernante okkupiert. Dass bei Quint auch homoerotisches Begehren vorhanden ist (trotz einer Liaison mit ;Miss Jessel) darf mit Blick auf Brittens Biografie als psychologisches Reizmoment angesehen werden, was zur Zeit der Werkentstehung (1954) allerdings noch nicht expressis verbis ausgesprochen werden konnte.

So oder so: die Oper ist reich an Abgründen, die sich inszenatorisch unterschiedlich akzentuieren lassen. Eine finale Besonderheit bei der Produktion am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier ist die Entscheidung der Regisseurin RAHEL THIEL, den Satz “Peter Quint, you devil“ nicht von Miles, sondern von der Gouvernante ausrufen zu lassen. Da Miles bei dieser letzten Begegnung mit Quint zu Tode kommt, macht die neue personale Zuordnung des Satzes durchaus Sinn, ohne dass man sie als unbedingt zwingend empfinden müsste.

Wirklich gute Arbeit leistet die Inszenierung bei der Figur der Gouvernante. ALFIA KAMALOVA, in dieser Partie eine wahrhaft umwerfende Sängerdarstellerin. Sie porträtiert eindringlich eine nicht mehr ganz junge Frau, die – fraglos auch von erotischen Sehnsüchten zu dem Vormund (in der Oper nicht näher beschrieben) beflügelt – eine schwierige Erziehungsaufgabe übernimmt. Sie wirkt zunächst offen und frohgemut, später immer beklommener, verängstigter, zuletzt nahezu schizophren. Der klarstimmige, entschieden artikulierende und sehr höhensichere Sopran von Alfia Kamalova gibt all diesen Ausdruckfacetten sichere, überzeugende Kontur.

Ansonsten  benötigt die Aufführung, in Kooperation mit der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar entstanden, eine Anlaufzeit bis zu Pause, um das Unheimliche, Spukhafte der Vorgänge visuell in etwa zu übersetzen. Starke Hilfe kommt durch die sängerisch prägnante  PETRA SCHMIDT, von LISA SCHOPPMANN und FREDERIKE MALKE wie eine Wasserleiche ausstaffiert, sowie von CORNEL FREY, welcher an seiner Heimatbühne, der Deutschen Oper am Rhein, üblicherweise das lyrische Tenorfach mit Buffoeinschlag abdeckt. Als Quint vokalisiert er  mit messerscharfer Diktion, lässt erotische Obsessionen anklingen. Auch in der darstellerischen Konzentration ein faszinierendes Porträt.

Vieles in der Inszenierung vollzieht sich aber doch einigermaßen beiläufig, ohne angemessene Morbidität. Das drehbare Treppenhaus der Ausstatterinnen wirkt wie aus Baumarkt-Material gezimmert, vermittelt so gar nichts vom unheimlichen Flair des englischen Gutsbesitzes. Die beiden Kinder, immer wieder zu rhythmisch plumper Bewegung angehalten, tragen Blondperücken, eine Idee, zu welcher die Regisseurin durch den Film „Das Dorf der Verdammten“ (1960) angeregt wurde. Diese Parallelisierung ist nicht ohne Reiz, intensiviert die geisterhaften Konturen der Oper aber nur wenig.. Der Knabendarsteller des Miles, JULIUS RÖTTGER, wirkt durch diese Maskerade sogar regelrecht anonymisiert. Gesanglich ist er freilich superb. Bei den anderen für die Folgevorstellungen anvisierten Mitgliedern des Knabenchores der Chorakademie Dortmund (welcher schon anderswo Interpreten für die Miles-Partie stellte) mag sich der visuelle Eindruck vielleicht ändern.

Nach längerer Zeit ist wieder einmal NORIKO OGAWA-YAKATE zu erleben, als Mrs. Grose noch mit immer noch souveränen Soprantönen aufwartend. Im Publikum hörte Helen Donath, vor einiger Zeit in Köln und Wiesbaden Interpretin dieser Partie, ihrer Rollenkollegin aufmerksam zu. Hervorragend die Flora  von JUDITH CASPARI aus dem Jungen Ensemble am MiR, klangschön der von IBRAHIM YESILAY angestimmte Prolog. Zu den glücklichen Aspekten der Aufführung gehört noch das Solistenensemble der NEUEN PHILHARMONIE WESTFALEN unter dem hellhörig und prägnant dirigierenden VALTTERI RAUHALAMMI.

Christoph Zimmermann

 

Diese Seite drucken