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GELSENKIRCHEN: LA GIOCONDA. Premiere

17.04.2016 | Oper

GELSENKIRCHEN: LA GIOCONDA                              Premiere am 16.April 2016

Die „Gioconda“ gehörte einst zu den Glanzpartien von Maria Callas (beginnend mit dem Verona-Debüt 1947). Ihre beiden Gesamtaufnahmen werden quantitativ freilich überflügelt von Renata Tebaldi (3x) und vor allem Zinka Milanov (5x zwischen 1939 und 1957). Wie zu merken: eine Primadonnenoper. Darüber hinaus eine Schauergeschichte vor malerischem Hintergrund (Venedig) – eine leichte Hypothek für heutiges Interpretationsverständnis, wenn man es nicht gerade durch Franco Zeffirelli vertreten sieht. Ein neuer Versuch, das Werk in den Griff zu bekommen, hat nun das Musiktheater im Revier in Koproduktion mit dem Tiroler Landestheater Innsbruck unternommen.

Die Wahl ist zu begrüßen, auch wenn sie seltsamerweise direkt nach Bellinis „Norma“ erfolgt. Allerdings wird solcherart nochmals daran erinnert, dass das Gelsenkirchener Haus vor Jahren eine engagierte Pflegestätte der Belcantooper war. Nach den damaligen Bellinis und Donizettis darf man „La Gioconda“ jetzt als durchaus einmal „fällig“ bezeichnen. Diese Oper ist ein ungemein kraftvolles und inspiriertes Werk, melodisch süffig und auch individuell, mit wirkungsvollen Chorszenen und einem (dramaturgisch sicher etwas dubiosen) Ballett, welches zu einem echten Hit wurde. Diesen Reichtum breiten RASMUS BAUMANN und die NEUE PHILHARMONIE WESTFALEN – dies sollte gleich vorab gesagt sein – mit viel Fingerspitzengefühl für das emotionale Klima der Musik und auch ihre vitale Dramatik aus. Die Ohren kommen also auf ihre Kosten. Die Augen allerdings auch, obwohl es in der Premiere auch leichte Proteste gegen die Inszenierung von ALEXANDRA SZEMERÉDY und MAGDOLNA PARDITKA gab. Zu Unrecht.

Das weibliche Regieteam hat im Grunde für heutige Augen nur verdeutlicht, was die Handlung bereits in ihrer Originalform (dekorativ) anbietet. Im Personarium des Programmheftes zu verschweigen, dass Alvise Badoèro eine Führungskraft der Inquisition ist, mutet übrigens seltsam an, bestimmt doch diese grausame Institution das Klima der Story. Signifikant hierfür ist in Gelsenkirchen ja auch die veränderte Klassifizierung des Barnaba: „Spitzel“ statt „Straßensänger“. Dieser hat nur Vernichtung im Sinne wie Verdis Jago oder Puccinis Scarpia, zumal bei einer Charakterzeichnung wie durch Tobias Heyder am gleichen Haus (Dezember 2015): ein Brutalo zwischen Machtgelüsten und niedrigen Sexbegierden.

Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka nehmen in ihrer Inszenierung auf den „Rat der Zehn“ Bezug, welcher in Venedig seit Beginn des 14. Jahrhunderts für ein flächendeckendes Bespitzelungssystem stand. Die Einrichtung von Beschwerdebriefkästen (wegen ihrer dekorativen Rahmung „Bocche di Leone“ genannt) wird in der Gelsenkirchener Ausstattung (sie stammt von den Regisseurinnen) über eine ganze Häuserwand verbreitet. Es gibt weiterhin kein malerisches Venedig-Ambiente, sondern nur die nüchterne Kälte eines Gerichtssaales. Auf beiden Seiten dieser Drehbühne deutet einiges Mobiliar den privaten Raum für Gioconda; ihre blinde Mutter und den „Untermieter“ Enzo an.

Die Atmosphäre der Inszenierung ist eine hitzig aufgeladene, dem Volks werden „Brot und Spiele verabreicht; stramme Tänzer paradieren und schwenken zackig rote Fahnen. Man denkt da an die römische Antike ebenso wie an die parodistischen wie entlarvenden Szenen der Filme „Ninotschka“ (Lubitsch) oder „Eins zwei drei“ (Wilder). Auch eine Flüchtlingssituation wird ins Bild gesetzt (Ende des 2. Aktes), die in einem Massaker durch die Staatspolizei endet.

Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka zögern nicht, im 4. Akt den Nervenkitzel auf die Spitze zu treiben. Gioconda singt ihr „Suicidio“ inmitten von Leichen, Enzo rammt der vermuteten Verräterin ein Messer in den Leib, an dem für Laura bestimmten Gift krepiert zuletzt Barnaba. Und dann – toller Coup und musikalisch absolut sauber – nochmals die Chorintroduktion mit all den szenischen Aktionen. Trotz Mord- und Totschlag geht das pervertierte Leben in der Lagunenstadt also weiter. Und leise erklingen die Glocken vom Campanile …

Wie steht es um den „Danza delle ore“, den „Tanz der Stunden“? Er gehört in Gelsenkirchen zum Repertoire von „Panem ed circenses“, mutiert aber zu einem „Danse macabre“ mit Totenmasken. Das ist interessant konzipiert, doch hält sich die Wirkung dann doch in Grenzen.

Wie immer bei Übersetzung historischer Stoffe ins Heute sind kleinere, manchmal auch größere Ungereimtheiten in Kauf zu nehmen. Dies ist jetzt auch bei „Gioconda“ der Fall, beispielsweise dadurch, dass Enzo Gimaldo (DEREK TAYLOR attraktiv in Stimme und Erscheinung) eigentlich nur ein leicht bürokratisch wirkender Alltagsmensch ist, per Übertitel aber immer noch als Fürst tituliert wird. Auch die Lynch-Bereitschaft gegenüber der als Hexe verdächtigten Cieca (für ihr schönstimmiges, ergreifendes Porträt erhält ALMUTH HERBST besonderen Applaus) ist in dieser Form ein heute kaum noch vorstellbares Verhalten. Doch solche Momente halten sich in Grenzen, verflüchtigen sich letztlich auch vor den in toto stimmigen inszenatorischen Lösungen.

Bei einigen vokalen Leistungen fühlt man sich nicht ganz wohl, sogar im Falle der bayreutherfahrenen NADINE WEISSMANN (Laura). Ihr üppiger Mezzo besitzt zwar Farbigkeit und Ausstrahlung, wird in der Höhe jedoch ziemlich grell. Der Bass von DONG WON SEO (Alvise) wirkt kraftvoll und muskulös, freilich auch dröhnend, und besitzt ein ziemlich störendes Vibrato. Den Barnaba gibt PIOTR PROCHERA darstellerisch überlegen und raffiniert, aber seinem ohnehin etwas angestrengt und rissig wirkenden Bariton mangelt es an Belcanto-Qualität auf ganzer Linie.

Bei PETRA SCHMIDT dürfen Hinweise auf Schwierigkeiten in der extremen Höhe gerechterweise nicht unter den Tisch fallen. Aber die Verve, mit welcher sich die zuletzt auch als Tosca sehr überzeugende Sopranistin in die Partie der Gioconda wirft und alle Facetten einer unglücklich Liebenden, ihre Rachegelüste gegenüber der Rivalin (Laura) dann aber überwindenden Frau auslebt, ist einfach großartig. Blonde Langhaarperücke und geschickte Kostüme sorgen für eine ausgesprochen jugendliche Erscheinung.

Christoph Zimmermann

 

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