ESSEN: CINDERELLA – back to the Fifties – Premiere Aalto am 2.11.2013
Wunderbar gelungener Tanztheater-Abend zum Träumen
Dass es vom Märchen „Aschenputtel“ nicht weniger als neun Opern-Versionen gibt und sogar acht Ballette (u.a. von Johann Strauss) ist bei der Popularität des Märchenstoffes der Brüder Grimm kein Wunder – wobei von den diversen Musical-Adaptionen mir eigentlich nur die 1957-er Fassung von Rodgers & Hammerstein einigermaßen erträglich erscheint. Nur ganz unsensible Eltern, oder rüde Splatter-Fans, lesen ihren Kindern die unsensible Originalversion des Grimmchen Märchens vor, wo sich am Ende die Schwestern durch unschöne Selbstamputation ihrer Zehen bzw. Ferse die Füße für den Prinzen-Schuh passend hacken (welch Alptraum!) und schließlich von Tauben noch die Augen ausgehackt bekommen.
Die wunderbare Ballettchoreografie von Stijn Celis, die gestern ihre begeistert aufgenommene Essener Premiere hatte, ist völlig jugendfrei ab sechs Jahren (oder sogar jünger) zu genießen. Zum Einschwingen in diesen herrlichen Ballettabend empfiehlt der Kritiker sich hier erst einmal einzuklicken (Lautsprecher am PC einschalten). Wie und warum diese schöne Schnulze zur „modernen“ klassischen Prokofjew-Musik passt, wird hier natürlich nicht verraten, denn dies gehört zu den vielen Überraschungen, welche dieser höchst unterhaltsame Ballettabend bietet.
Der Opernkritiker fängt mit dem nichttänzerischen Aspekt an, nämlich der Musik. Die Cinderella-Partitur (für mich das vielleicht Schönste was Prokofjew überhaupt komponiert hat) ist ein filigranes Gemälde, welches höchste Konzentration und viel Probenvorarbeit benötig, wenn man die Musik nicht nur als „Filmmusik“ zum Ballett betrachtet, sondern ernst nimmt. Dies alles und mehr meistern die brillant aufspielenden Bochumer Symphoniker – eines der besten und viel zu wenig beachteten Top-Orchester NRWs! – unter der überragenden Leitung von Yannis Pouspourikas – auf superbe Art und Weise. Hier wird nicht nur Begleitmusik abgeliefert, sondern Prokofjew in höchste Konzertqualität, aufs Feinste ausziseliert, wiedergegeben. Die Bochumer liefern einen so ungeheuren Spannungsbogen in grandioser Koordination mit dem Bühnentanz, wie ich ihn selten erlebt habe. Und so ist allein schon wegen der sagenhaften Orchesterleistung der Abend, auch für nur reine Konzertfreunde, mehr als empfehlenswert.
Das Essener Ensemble gehört für mich zu den besten Deutschlands; eine Ballett-Gemeinschaft, die sich nicht nur an und ausschließlich (wie bei vielen Häusern) an der Qualität der Solotänzer/innen misst, sondern auch und vor allem im Chorgeist der Truppe, die mit Präzision, Präsenz, überzeugendem Darstellungsvermögen, Engagement und Tanzfreude immer wieder das Publikum begeistert. Ballett macht Spaß. Ballett kann so schön sein; intelligent unterhaltend und doch nicht publikumsanbiedernd. Hier geht das Publikum beglückt nach Hause und wird nicht noch mehr lebensdeprimiert oder schwermütig esoterisiert, wie am großen Nachbar-Haus am Rhein. Im Essener Aalto findet noch Ballett statt, das die Menschen mögen und die Zuschauer allabendlich begeistert oder zu Tränen rührt. Das Essener Aalto hat ein Herz für lebensfrohe Ballettomanen allen Alters. Danke!
Was für schöne Kostüme hat Catherine Voeffray da kreiert. In die schönsten, geradezu diamantenhaft funkelnden, steckt sie drei Männer – der Clou dieser Produktion. Stiefmutter und -Schwestern werden auf geradezu furios unterhaltende Art und Weise von Artur Babajanyan & Liam Blair, Wataru Shimizu getanzt.
Im Finale spielen die roten Traum-Schuhe keine Rolle mehr – man tanzt barfuß
Hier liegt auch einer der grandiosen Gestaltungselemente dieser Choreographie, in welcher Stijn Celis nicht nur Momente betörend an Wilhelm Busch erinnernden Humors einbaut, sondern auch nostalgische herrliche Stimmungs-Bilder aus den Fünfzigern liefert, wobei er die Ballsaal-Athomphäre wiederum gekonnt bricht durch wirklich furios überraschende Bewegungsmomente in den Ensembles. Alles passt, alles ist stilsicher umgesetzt. Und auch das wechselnde Bühnenbild (ebenfalls vom Choreografen) überzeugt – beginnend mit einer famosen Szene, die im Finale wieder aufgenommen wird, wo ein stilisiert quasi eingefrorenes Wohnszenario wie im scheinbar auftauenden Eis zu verschwinden droht.
Yulia Tsoi in der Hauptpartie tanzt nicht nur wie eine filigrane Feder, sondern sie lässt uns am Seelenleben der armen und enttäuschten Cinderella herzerwärmend teilhaben; zusammen mit sowohl Denis Untila (Vater), als auch dem Prinzen Breno Bittencourt bezaubert die Ballerina das Publikum in märchenhaften pas-de-Deuxs.
Tänzerische Aktion im Einklang mit bühnenbaulicher Perspektive – Wow!
Fazit: Hallo! Hiermit rufe ich die Ballettfreunde (nicht nur aus Düsseldorf und Umgebung ;-), sondern aus ganz NRW dringend auf, bevor all die vielen Abende wieder ausverkauft sind – was vorhersehbar ist – eilet nach Essen und freut Euch auf einen so wunderbaren Abend, wie ich ihn sowohl tänzerisch beglückender als auch musikalisch brillanter und dabei Herz & Seele bezaubernder, selten erlebt habe. Besser kann man den Elendigkeiten und Deprimierungen des Alltags nicht entfliehen – zwei Stunden höchst unterhaltsames Traumballett!
Peter Bilsing
Mehr Fotos in der „Opernfreund-Kritik http://www.deropernfreund.de/essen-aalto.html
Bilder: Bettina Stöß