Dresden: „SPIEGEL“ – DIE DRESDNER MUSIKFESTSPIELE IM ZEICHEN NEUER IMPULSE – TEIL I – 10.5. – 22.5.2018
In diesem Jahr stehen die Dresdner Musikfestspiele unter dem Motto „SPIEGEL. Sie starteten mit dem repräsentativen „ERÖFFNUNGSKONZERT“ (10.5.) im neuen Konzertsaal des Kulturpalastes in Anwesenheit von (Polit‑)Prominenz des Freistaates Sachsen und aus Dänemark in ihre 41. Saison. Zu Gast war die Königliche Kapelle Kopenhagen, eines der ältesten Orchester der Welt (seit 1448), mit der auf originelle Weise der derzeitige und der ehemalige Festspielintendant vereint auftraten, Jan Vogler mit seinem Cello, dem Instrument des Jahres, und Hartmut Haenchen am Dirigentenpult, der nach vielen Auszeichnungen und Preisen nun – nicht zuletzt für seinen bewunderten Bayreuther „Parsifal“ den Leipziger Richard-Wagner-Preis erhielt (13.5.) und mit 75 Jahren mehr gefragt ist denn je. Die gemeinsame Liebe zur Musik machte es möglich.
Aus seiner Heimat brachte das Orchester die „Ouvertüre“ zur komischen Oper “Maskerade“ von Carl Nielsen, Dänemarks bedeutendstem Komponisten, mit, ein heiteres, auch derb-witziges Stück voller Lebenslust und guter Laune und überraschender Vielfalt an Stimmungen, vom Orchester mit besonderer Klarheit und gekonntem Humor gespielt.
Mit dieser besonderen Klarheit wurde auch das völlig anders gearteten „Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 2“(op. 126), von Dmitri Schostakowitsch gespielt, das bisher immer im Schatten des, ebenfalls für Mstislaw Rostropowitsch komponierten, brillanteren 1. Cellokonzertes stand, trotz oder gerade wegen seiner skurrilen Art und zugespitzten Ausdrucksformen, dem herb-frischen Klangbild unter Ausnutzung ungewöhnlicher Effekte und geschärfter Dissonanzen in einer vielsagenden „Korrespondenz“ zwischen Solo- und Orchesterstimmen. Jan Vogler meisterte die ausgedehnten, mit Schwierigkeiten gespickten, originellen Solokadenzen mit ihrem „redenden“ Charakter souverän, fein nuanciert, mit Bravour und dem berühmten „singenden“ Ton.
Die für Schostakowitsch typischen, plötzlich einsetzenden gewaltigen, extrem harten Trommelschläge durften auch bei diesem Konzert nicht fehlen. Junge Paukisten lieben es, das Schlagzeug mehr sportlich „bis zum Anschlag“, als mit musikalischem Gefühl zu bedienen, so dass auch die „Sinfonie Nr. 1 c-Moll (op. 68) von Johannes Brahms mit sehr harten mechanischen Paukenschlägen, wie die einer Maschine, fast separat vom „übrigen“ Orchester, eingeleitet wurde. Später waren aber auch behutsamere Paukentöne mit dem Orchester und ein mächtiges Crescendo, vom leisesten Piano zum kräftigen Fortissimo, zu hören. Vom Orchester wurde ebenfalls Vehemenz bevorzugt. Obwohl Haenchens Gesicht im Durchleben der Musik den unterschiedlichen Charakter der Sätze wiederspiegelte, blieben die Musiker bei dem, der nordischen Mentalität entsprechenden, härteren, herberen Klang. Offenbar haben sie eine andere Beziehung zu Werk und Komponist.
Die besondere Spezialität des Orchesters liegt in der Klarheit, mit der musiziert wurde, ein auffallend leises, feines Pianissimo, bei dem noch jeder Ton klar zu hören ist, sehr gute, saubere Bläser und absolut konforme Streicher, die mit bewundernswerter Konformität, auch bei gesteigertem Tempo und ans Monumentale grenzender Wiedergabe, in einer gewaltigen Steigerung bis zum sieghaft-furiosen Finale, einschließlich sehr harter Pauke, das Publikum zu Jubel und Beifallsstürmen hinrissen.
Während Vogler nach dem begeistert aufgenommenen Cellokonzert von Schostakowitsch statt einer Zugabe die Gelegenheit für Dankesworte an die anwesenden Politiker für ihre Unterstützung der Musikfestspiele nutzte, ließ Haenchen mit zwei Zugaben noch einmal die Palette der klanglichen und gestalterischen Möglichkeiten des Orchesters mit dem ruhig, dezent, klang- und gefühlvoll, in ungewohnt langsamem Tempo „zelebrierten“, Vorspiel zum 3. Akt der Oper „Rosamunde“ von Franz Schubert und dem mit furios überschäumendem Temperament gespielten „Ungarischen Tanz Nr. 5“ von Johannes Brahms, der erst recht den Jubel des Publikums aufbranden ließ, Revue passieren.
Begeistert war auch das, die Frauenkirche bis in den letzten Winkel füllende, Publikum beim Konzert der ENGLISH BAROQUE SOLOISTS UND DES MONTEVERDI CHOIR UNTER JOHN ELIOT GARDINER (11.5.), deren mitgebrachtes Orgelpositiv mit dem barocken Prospekt ähnlich einer Silbermann-Orgel bereits mit dem optischen Eindruck die Sinne auf die vier Kantaten von J. S. Bach „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12), „Wachet! Betet“! Betet“! Wachet!“ (BWV 70), „Jesu, der du meine Seele“ (BWV 78) und „Wachet auf, ruft uns die Stimme (BWV 140) lenkte.
Es gab viel Licht, aber auch etwas Schatten. Gardiner sorgte für die richtigen Tempi und eine frische, lebensbejahende Aufführung. Die Baroque Soloists, eines der führenden Ensembles mit historischen Instrumenten, sorgten mit gutem Zusammenspiel und besonderen solistischen Leistungen – allen voran der hervorragende Oboist, aber auch der Trompeter sowie Flöte, Fagott, Cello und Violine – für den guten Klang.
Die sehr unterschiedlichen Gesangssolisten, einige von ihnen mit guter Stimme und richtiger Diktion, kamen – neben „gestandenen“ Solisten – aus dem Chor bzw. bildeten denselben (mit), was zwar für Abwechslung sorgte und der alten, seinerzeit meist aus der Not geborenen, Aufführungspraxis entspricht, aber auch Nachteile in sich birgt, da besonders in kleineren Gruppen das unterschiedliche Timbre der Sänger meist nicht harmoniert und bei Duetten, wie dem besonders innigen „Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten“ (BWV 78) „gestandene“ Solistin und etwas leisere Chorsängerin sehr ungleich, mehr „nebeneinander“ her, als miteinander sangen.
Die Konzeption der Musikfestspiele ist breit gefächert. Sie umfasst nicht nur „klassische“ Konzerte im engeren Sinne, sondern eine breite Palette an Konzertangeboten, Gastspielen der weltbesten Orchester, Kammermusik und Solokonzerte bis hin zu Jugendförderung, Cross-Over, Jazz, Gesprächsrunden usw. Sie ist offen für alle Musik.
14 junge Leute, nur Streicher, die jungen Damen in farbigen langen Kleidern, denn das Auge „hört“ auch mit, hatten ihren „großen“ Auftritt im Palais im Großen Garten (12.5.). Unter der Leitung seines Gründers und Leiters mit der Violine, Alexander Gilmann, spielte das Ensemble LGT YOUNG SOLOISTS aus hochbegabten Jugendlichen aus aller Welt „spritzig“, mit Elan und Leidenschaft bekannte Werke (und auch Bearbeitungen) von Bottesini, Holst Paganini, Schnittke, Tartini und Waxmann und u. a. auch „Carmen“für Violine solo.
In einer Matinee präsentierte sich JOSÉ CURA – EINMAL ANDERS mit den DRESDNER KAPELLSOLISTEN in der Semperoper (13.5.). Man kennt und schätzt ihn als profilierten Opernsänger, hier versuchte er sich als „Pop-Star“, lässig und „volkstümlich“, sitzend, mit dem Gesicht zum Publikum, als Sänger, Moderator, „Dirigent“ und „Komponist“. Hin und wieder einen Schluck aus der (Wasser-)Flasche oder Kaffeetasse nehmend, plauderte er nach kurzem, „populärerem“ „Guten Morgen“, offenbar einer seiner wenigen deutschen Redewendungen, nach Pop-Art und „in English“ unentwegt heiter und volkstümlich, sehr zum Amüsement des Publikums, zwischen sehr ernsten „Argentinischen Liedern“, vertonten Gedichten des 19.-21. Jahrhunderts über Liebe, Tod, Einsamkeit und Trauer, manche geprägt von politischen Niederlagen und enttäuschten Hoffnungen, einige davon von ihm selbst komponiert.
Argentinien ist nicht nur Tango, aber der gehört nun einmal auch dazu. Hier blieb er außen vor. Cura sang eher mit „gebremstem“ Temperament, „dirigierte“ auch etwas und plauderte, plauderte, plauderte. Seine immer sehr geschätzte Opernstimme war bei den Liedern, besonders im Piano und Mezzpoforte sowie a capella noch immer von Wohlklang und besonderer Klarheit, nuancenreich und problemlos in Tiefe und Höhe (wenn auch nicht immer ganz ohne „Schärfe“), nur im Forte geriet er nicht selten unversehens in das „Fahrwasser“ der großen dramatischen Opernszenen a la Puccini.
Die Dresdner Kapellsolisten (Einstudierung: Helmut Branny) können einfach alles. Sie wurden dem Charakter all dieser Lieder in unterschiedlichen Besetzungen, ob nur Gitarre, Klavier, Fagott, Flöte, zwei Violinen, Kontrabass oder Streicher oder größeren Gruppierungen, sehr überzeugend gerecht und ließen etwas von der Weite des Landes, seiner Natur und Andersartigkeit jenseits von Tango und überschäumendem Temperament ahnen. Und doch konnte man sich bei dieser Matinee eines gewissen Zwiespalts nicht erwehren, halb Klassik, halb Pop, Lieder-Matinee und ernsthafte Poesie, Tradition und Moderne, aber viele Besucher waren gerade von dieser „Mischung“ angetan. Mir wäre ein reiner „Liederabend“ – auch mit diesen Liedern – lieber gewesen.
Anders verhielt es sich da beim VIOLINREZITAL ANUSH NIKOGOSYAN mit einem rein „klassischen“ Programm in dem, inmitten von Weinbergen gelegenen, Weingut Schloss Wackerbarth in Radebeul, unweit von Dresden (13.5.). In der dortigen Abfüllhalle, unter der der Wein bis zum Abfüllen in Flaschen noch reifen muss, präsentierte die junge armenische Geigerin ein ausgereiftes Violinspiel, zunächst mit der „Sonate für Klavier und Violine Nr. 5 F-Dur, der „Frühlingssonate“ (op. 24) von Ludwig van Beethoven, bei der ihr Begleiter am Flügel, Vag Papian, die Reihenfolge der genannten Instrumente allzu wörtlich nahm und dominierte. Als Dirigent von Beruf gestaltete er den Klavierpart mehr repetitorisch (auch mit kleinen flüchtigen Ungenauigkeiten) denn als Liedbegleiter, während sie sich mit Feingefühl der Sonate widmete.
Bei den „Fantasiestücken für Klavier und Klarinette (Violine oder Violoncello ad libitum)“ von Robert Schumann(op. 73) stellten sich beide schon eher aufeinander ein und verfolgten in „flüssigem“ Spiel die großen musikalischen Linien.
Aus den „24 Präludes für Klavier“ (op. 24) von Dmitri Schostakowitsch (in einer Bearbeitung für Violine und Klavier von Dmitri Zsyganov) spielten sie mit der Leichtigkeit dieser kleinen, feinen Stücke die Nr. 10 mit der für Schostakowitsch seltenen Melodik und einem lustigen „Schwänzchen“ am Ende, die kompliziertere Nr. 15 forsch, energiegeladen und sehr klangreichem Schluss, und Nr. 16 und 24 rhythmisch betont, mit überraschenden Effekten und viel Temperament.
Mit einer großen Palette an Klangfarben, Geräuschen und anderen Ausdrucksmitteln, mitunter laut, hart, nervend, mit geballter Wucht, wild hämmernd auf dem Klavier, versöhnenden, wohlklingenden Passagen und zarten Geigentönen machten sie mit der eher rational komponierten „Sonate für Violine und Klavier b-Moll“ ihres armenischen Landsmannes Arno Babadschanjan (1921-1983) bekannt, der damit, auch experimentierend, die neue armenische Musik begründete.
Als Zugabe spielte sie das Stück „Krunk“ („Kranich“), ebenfalls eines armenischen Landsmannes, des armenischen Priesters, Komponisten, Sängers, Komitas Vardapet, und Begründers der modernen klassischen Musik Armeniens, der u. a. in Berlin studierte, emotional sehr unter dem Genozid an den Armenieren litt und in Paris starb.
Das ROYAL CONCERTGEBOUW ORCHESTRA kam mit Daniele Gatti am Pult und Daniil Trifonov als Solist in den Kulturpalast (16.5.). Feinste Oboenklänge leiteten das „Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 C‑Dur“ (op. 26) von Sergej Prolofjew ein. Mit seinem bescheidenen Auftreten, aber umso mehr Temperament, grandioser Virtuosität, mitunter wild „hämmernd“, mit unglaublicher Fingerfertigkeit und Treffsicherheit, wahren „Hexenkünsten“, virtuosen „Kunststücken“, fast mechanisch die Tasten absolut sicher, traumwandlerisch treffend, fast übermütig, widmete sich Daniil Trifonov diesem Konzert, vom Orchester mit gleicher Turbulenz und Energie, mitunter fast tumultuarisch, aber nie schmerzend, unterstrichen, sondern stets folgerichtig. Mit einer kleinen, feinen, spieldosenartigen, gestochen scharfen Zugabe erfreute er danach noch einmal das Publikum.
Im Gegensatz dazu begann die „Sinfonie Nr. 1 D‑Dur“ von Gustav Mahler im feinsten Pianissimo wie in einem durchsichtigen Nebelschleier, mit einer solchen Feinheit und nachempfunden der Gefühlen, wie sie sonst wohl kaum zu hören ist bis alles in einer langsamen Steigerung mit drei, sehr gefühlvollen und sauberen Trompeten im Hintergrund erst allmählich erwacht. So fein kann Mahler auch klingen, mit fließendem Accelerando, gut herausgearbeiteter Synkopierung sehr sanfte, fein zelebrierten melodischen Passagen, volkstümlicher Melodik, aber das kann wohl nur Gatti. Doch – wie könnte es bei Mahler anders sein – endete diese Beschaulichkeit im leisesten Pianissimo plötzlich mit dem vehement hereinbrechenden Chaos in überbordendem Lärm und nervigem Klang.
Gatti gestaltete die Sinfonie mit dem (gewaltigen) Trommelschlag in ihrer musikalischen Entwicklung mit großen musikalischen Bögen und starken Kontrasten zwischen leisestem, feinstem Pianissimo und turbulentem Fortissimo, von der Pauke folgerichtig unterstützt und unterstrichen, selbst im Fortissimo dem Ohr nicht wehtuend. Einziger Wermutstropfen dieser insgesamt atemberaubend interpretierten Sinfonie waren möglicherweise raumbedingten kleinen „Kiekser“ der Bläser mit wenig Klang. In einer, sich hochschraubenden Klangspirale, dem jetzt allgemeinen Erfolgsrezept, das beim Publikum immer ankommt und auch hier sehr gefiel, steuerte Gatti mit dem Concertgebouw einem triumphalen Finale entgegen.
Der Eindruck eines eher verhaltenen Klangbildes entstand bei dem Konzert des, 2012 speziell für die Dresdner Musikfestspiele gegründeten DRESDNER FESTSPIELORCHESTERS, für das sich alljährlich herausragende Musiker aus den renommiertesten europäischen Alte-Musik-Ensembles zusammenfinden, in der Reihe „Originalklang“ in der Semperoper (21.5.). Auf dem Programm standen ausschließlich Werke von Johannes Brahms, was ähnlich den früheren „Akademien“ ein tieferes Eindringen und Erschießen der musikalischen und geistigen Welt eines Komponisten ermöglicht, und in diesem Fall Musizierpraxis und Klangbild der Hochromantik mit anderem Klangideal und anderen Möglichkeiten bedeutete.
Am Anfang standen die „Variationen über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur“ (op. 56a), die gegenwärtig leider nur selten in den Konzertsälen zu hören sind. Mit warmem, aber instrumentenbedingt auch etwas ungewohnt „dumpfem“ Klang „entführten“ Bolton und das Orchester in die Welt des 19. Jahrhunderts. Innerhalb der neun Variationen zu einem Thema aus einer „Feldparthie“ (Divertimento) machte er zwei ungewohnte kleine Kunstpausen wie Zäsuren.
Das im Gegensatz dazu sehr oft von den unterschiedlichsten Stargeigern zu hörende „Konzert für Violine und Orchester“ erfuhr durch Thomas Zehetmair eine weitere Farbe in der Palette individueller Interpretationen. Mit singendem, sehr geschmeidigem Ton, feinstem Pianissimo und als Kontrast dazu eine leicht herbe, aber immer noch besonders geschmeidige Tongebung, mit schöner Kadenz und gutem Klang verfolgte er auch die feinsten musikalischen Linien und Nuancen. Jeder Ton war ein Hörgenuss, ergänzt von klangvollen Streichern im Orchester. Das könnte dem Klangideal der Hochromantik mit ihrem Sentiment, in die Brahms‘ Œuvre fällt, entsprochen haben, mehr als manche kraftvoll-virtuose Interpretation unserer Zeit. Etwas aus dem Rahmen fiel dann die Zugabe, ein Sonatensatz von Bernd Alois Zimmermann, von Zehetmair als „noch ein großer deutscher Komponist“ angekündigt – zwar auch „Originalklang“, aber ein sehr gegenwärtiger.
Mit großem Orchester, wie gewohnt, größer als es Brahms vorschrieb und als man es sich zur Zeit der Uraufführung der „Sinfonie Nr. 2 D‑Dur (op. 73) leisten konnte, wurde mit Entdeckerfreude, Präzision und Gefühl für authentische Interpretation musiziert, aber auch mit anderem Klang, als gewohnt, bedingt durch das historische Instrumentarium, irgendwie etwas verhaltener, reservierter, aber auch wärmer, gefühlsbetont. Man konnte sich vorstellen, wie diese Sinfonie vor über 100 Jahren geklungen haben mag und vom damaligen Publikum aufgenommen wurde, aber kennt man denn wirklich das Klangideal früherer Zeiten? War es mit den Möglichkeiten der Praxis identisch? Als begeisterter Alte-Instrumente–Fan muss ich inzwischen feststellen, dass es vor allem auf die innere Einstellung und Musikalität der Ausführenden ankommt, mehr als auf Instrumente und historisch orientierte Aufführungspraxis. Interessant ist der Originalklang allemal, aber nicht zwingend notwendig. Er kann nur eine Facette im Rahmen der vielen Interpretations-Möglichkeiten sein.
Eine ganz andere, „radikalere“ Facette in diesem Rahmen präsentierte das Ensemble L’ARPEGGIATA unter der Leitung von Christina Pluhar im Kulturpalast (22.5.). „HÄNDEL GOES WILD“ hieß es da, und obwohl im Programm als zu der Reihe „Originalklang“ gehörig, angezeigt, ging es „;Mal wild – mal mild“ zu. Hier ging es eher um Öffnung und Verfremdung der wirksamsten „Ohrwürmer“ von G. F. Händel („Einzug der Königin von Saba“ aus „Solomon“ und Ausschnitte aus „Alcina“, „Rinaldo, „Giulio Cesare in Egitto“ u. a.) sowie A. Vivaldi („Concerto für Streicher“).
Nach Belieben, Improvisationslaune und Ideen frei zusammengestellt, arrangiert nach dem Motto „erlaubt ist, was gefällt“ wurde frisch und munter experimentiert, u. a. durch jazzige Einwürfe oder längere Einlagen des echten Jazzmusikers Gianluigi Trovesi an der „Klarinette“ (die eher ein Saxophon war) oder Schlagzeuger mit längerem „Trommelfeuer“ auf einem sehr speziellen „Tamburin“, der sich bei der zweiten Zugabe in den Vordergrund schob, um seine virtuosen Kunststücke, kombiniert mit kleinen Zirkuskunststückchen, zu präsentieren, aber es gab auch ein „echtes“ Krummhorn.
Die Begleitung der Arien wurde spielfreudig „modernisiert“ und oft mit leichter Schlagzeug-untermalung versehen, aber man leistete sich für den Gesang eine gute Sopranistin mit ansprechender Stimme, Céline Scheen, und keinen Geringeren als den Countertenor Valer Sabadus mit seiner betörenden, wenn auch nicht sehr kräftigen, Stimme, klangvoller Höhe und sauber gesungenen Verzierungen. Beide richteten mit einschmeichelnder Stimme und der Gesangstechnik der Alten Musik, der sie selbst bei jazziger Begleitung treu blieben, und harmonischen Duetten mit ihrem stilreinen Gesang immer wieder den Fokus auf die Barockmusik, die ansonsten keineswegs im Originalklang, sondern nur von drei Geigerinnen, Cello, Kontrabass und ad libitum mal von modernen Klavier-Klängen u. a. bestritten wurde.
Christina Pluhar, die selbst zu einer maßgeschneiderten „Riesen“-Theorbe griff, um mit einem anderen Theorbe-Spieler spiegelbildlich zu musizieren und auch sonst (außer beim Applaus) dem Publikum immer den Rücken zuwandte, ist in die Breite gegangen und hat die einst rhythmisierte Alte Musik in Richtung Jazz und Improvisation immer weiter geöffnet und bis zum „improvisierenden Jazzabend mit barocken Wurzeln“ entwickelt. Unter ihrer Leitung entspann sich ein „Gemisch“ aus (fast zu) sanfter Barockmusik, Jazz und freier Improvisation, fast wie ein „Wettstreit“ zwischen Tradition und Moderne, Ernsthaftigkeit und lockerem Spiel.
Jetzt sind die Dresdner Musikfestspiele fast in der „Halbzeit“ angekommen. Aus dem überaus vielfältigen Angebot an Veranstaltungen konnten hier nur einige „Festival-Splitter“ herausgegriffen werden, um darüber zu berichten, aber das Festival geht weiter.
Ingrid Gerk