Semperoper Dresden: Hans Werner Henzes „Wir erreichen den Fluss“ (20.9.2012)
Foto: Semperoper/ Mathias Creutziger
Nun ist Hans Werner Henze fast schon ein Dresdner geworden. Vor nahezu fünf Jahrzehnten bereits stand der Komponist in einem Konzert der Sächsischen Staatskapelle am Pult und stellte eigene Werke vor. Vielfältig waren in den folgenden Jahren auch die Bemühungen der Dresdner Staatsoper um sein facettenreiches Bühnenwerk. „Der junge Lord“, das Ballett „Undine“, „Die Bassariden“, „L’Upupa“, zuletzt „Gisela oder: Die merk- und denkwürdigen Wege des Glücks“ bezeichneten da markante Positionen im Repertoire. Und für diese Saison wurde der 86-jährige Meister gar zum Capell-Compositeur der Staatskapelle gekürt. Zum Auftakt der vielgestaltigen Henze-Hommage an der Sächsischen Staatsoper gleichsam ein Paukenschlag – die Dresdner Erstaufführung seiner Antikriegsoper „Wir erreichen den Fluss / We come to the river“ (1973/75). Henzes politisch engagiertestes Bühnenwerk, dessen Libretto in enger Zusammenarbeit mit dem englischen Dramatiker Edward Bond entstand, ist eine glühende Anklage von Krieg und Gewalt, Leid und Unrecht – konzipiert vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges und des Militärputsches in Chile. „Meine Oper ist ein Manifest gegen die Gewalt, die Beschreibung des Niedergangs eines Potentaten und einer ganzen herrschenden Klasse und des Aufkommens einer neuen Welt ohne Gewalt.“ 1975 in London uraufgeführt, zuletzt vor elf Jahren in Hamburg inszeniert, mobilisiert dieses Ausnahmestück in der Tat das Potenzial eines Opernhauses bis zum Äußersten.
Allein 50 Darsteller in über 100 Rollen werden bemüht.Um Henzes Vorgabe, „das Geschehen so nah wie möglich an den Zuschauer heranzutragen“, zu entsprechen, hatte sich Regisseurin Elisabeth Stöppler in Zusammenarbeit mit ihren Bühnenbildnerinnen Rebecca Ringst und Annett Hunger sowie dem Kostümgestalter Frank Lichtenberg entschieden, „aus der Guckkastenbühne und dem Zuschauerraum der Semperoper einen nach allen Seiten hin offenen Theaterraum zu machen“. Gleich beim Betreten des Saales wird der Besucher von der Fiktion eines von Militärs besetzten Opernhauses gefangen genommen. Bewaffnete Soldaten kontrollieren den Raum, seitlich herabhängende Stoffetzen assoziieren einen Kriegsschauplatz. Und eine gewaltige Rauminstallation mit Podesten und Metallgerüsten sowie einem den Saal durchquerenden Laufsteg verlängert die Bühne bis weit in den Zuschauerraum hinein. Drei auf unterschiedlichen Ebenen platzierte, mannigfaltig besetzte Kammerorchester – überdies eine opulente Schlagzeugbatterie in der Mittelloge – korrespondieren mit gleichfalls drei Spielflächen der Protagonisten. Gespielt wird zudem – zeitweise gar simultan – auf etlichen im Saal verteilten Podien, angesiedelt „im Hier und Jetzt“. Für die Regisseurin ist es geradezu alarmierend, dass in Deutschland Kriegsteilnahme wieder als normal betrachtet wird.
Im Zentrum der Handlung steht das Schicksal eines skrupellosen Generals, der, ausgelöst durch diagnostizierte Erblindung, einen Reifeprozess durchlebt, für Elend und Rechtlosigkeit seiner Opfer sensibilisiert wird, schließlich Gehorsam verweigert und sich so vom Kriegsaktivisten zum Pazifisten wandelt. Worauf er für verrückt erklärt und ins Irrenhaus gebracht wird, jedoch mit zunehmendem Erblinden für das den Entrechteten angetane Leid „sehend“ wird und so erkennen muss, dass er die „Tränen der Mächtigen kannte, doch nicht die der Schwachen“. Schon im 1. Teil, dem Schlachtfeld, simultan zur Wandlung des Generals, wird der Zuschauer mit vielen, das Grauen des Krieges einfangenden Szenen konfrontiert. Verstörend, gleichwohl berührend das Irrenhaus im 2. Teil, das als Trauma des 1. Teils erscheint. Vor dem inneren Auge des Generals erstehen da all die Toten wieder – die nicht mehr zu rettende junge Frau (Vanessa Goikoetxea) und die im Fluss umgekommene alte Frau (ausdrucksintensiv: Iris Vermillion) sowie der erschossene Deserteur, den der Tenor Simeon Esper mit lyrischen, von Leid zeugenden Stimmfarben charakterisierte. Letztlich wird der General von seinen gleichfalls durch Gewalt traumatisierten Leidensgenossen getötet. Beeindruckend, wie eindringlich Simon Neal mit kraftvollem Bariton und flexibler Gestaltung den Erkenntnisprozess des Generals nachzuzeichnen vermochte.
So avanciert die Aufführungsästhetik, so komplex auch die kompositorische Anlage, in der Tonales und Zwölftönigkeit eine gelungene Synthese eingehen. Ein Glücksfall für die Dresdner Produktion – der noch junge Dirigent Erik Nielsen, der die bedrohlichen apokalyptischen Klangkaskaden wie auch die kontemplativ ariosen Kantilenen, die volkstümlich konturierten Passagen ebenso wie die aleatorischen Klangfelder des Werkes mit den Instrumentalisten der Staatskapelle souverän ausbalancierte. Ein gewichtiges, an Metaphern reiches Musikdrama zum Saisonauftakt in einer überzeugenden Lesart. Die die Zuschauer einlädt, den Schritt über den Fluss hinweg in eine gewaltfreie, gerechtere Welt, noch ein Utopia, zu wagen.
Nächste Aufführung: 29.9. Info-Tel. 0351 4911 0
Dietrich Bretz