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DRESDEN/ Semperoper: PELLÉAS ET MÉLISANDE. Premiere

25.01.2015 | Allgemein, Oper

Dresden / Semperoper: „PELLÉAS ET MÉLISANDE“ – 24.1.2015  Pr.

Unbenannt 
Erste Begnung zwischen Golaud (Oliver Zwarg) und Mélisande (Camilla Tilling). Foto: Matthias Creutziger

Wenn sich der Vorhang für „Pelléas et Mélisande“ in der Neuinszenierung von Àlex Ollé, einem der sechs künstlerischen Leiter der 1979 gegründeten, äußerst innovativen und Kultstatus genießenden katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus, hebt, stockt unwillkürlich der Atem angesichts einer hohen, steilen, dunklen (Fels-)Wand mit verschlungenen „Metallic“-Stäben, die – je nach Situation – durch geschickte Beleuchtung dünne, in sich gebogene und verdrehte Stämmchen eines bedrohlich dichten Auwaldes mit entlaubten Ästen, eine hohe, steile, beklemmende Felswand, auf der oben das Schloss erahnt werden kann, oder eine Wand dieses Schlosses assoziiert und fast gespenstisch symbolhaft in eine düstere Welt entführt, eine Welt der psychischen Hintergründe und Abgründe, des „in der Natur nicht Sichtbaren“. In jedem Fall befindet sich am Fuße reichlich Wasser, das in jedes Bild passt.

Man atmet auf, endlich einmal nicht die zurzeit immer noch und überall anzutreffenden Gerüste, Versatzstücke und sonstigen Inszenierungselemente, sondern eine ungewöhnliche, bildgewaltige Umsetzung der Musik, ein in jeder Phase adäquates Unterstreichen, der durch die Musik in ungewöhnlicher Weise deutlich gemachten psychischen Vorgänge.

Später wird das Grundelement des Bühnenbildes (Alfons Flores) sichtbar: ein großer nüchterner „Kasten“ als archaisches Schloss, der durch sinnvolle, den Fortgang der Handlung immer wieder belebende Drehungen und entsprechende Lichtgestaltung (Marco Filibeck) mit relativ wenig Mitteln sehr viel andeutet. Es werden immer wieder neue Räume sichtbar, in denen die jeweiligen Szenen stattfinden, immer wieder das Düstere, Finstere, Gefühlte betonend, selbst bei scheinbarer „Normalität“. Im Widerspruch zu den archaischen Wänden, die wie aus rohem, grobem Lehm geformt scheinen, aber auch den Eindruck einer barocken Wandgestaltung annehmen können, entspricht die bürgerlich betuliche Ausstattung der Räume mit Stehlampe, wie sie einst in (fast) jedem Wohnzimmer zu finden war, und Mobiliar des 20. Jh. (dazu gehören auch die „Stilmöbel“) kaum der sonst so guten Gesamtkonzeption.

 Noch weniger tragen die Alltags-Kaufhaus-Kostüme (Lluc Castells), die man sich nun wirklich schon in anderen Inszenierungen „sattgesehen“ hat, zum Verständnis bei, die Herren in dunklen Anzügen, die Königin im karierten Rock und die Hausangestellten weiß beschürzt und im „kleinen Schwarzen“. Am ehesten passten da noch die Kleider der Mélisande. Neu war, dass alle Akteure Gummistiefel tragen, um durchs Wasser zu waten und es hoch spritzen zu lassen. Zum Schluss muss sogar der Dirigent in solche steigen, um den Beifall auf der Bühne für sich und die wunderbar spielende Sächsische Staatskapelle Dresden in Empfang zu nehmen.

 Unter der inspirierenden Leitung von Marc Soustrot wurde Debussys Musik durch die Kapelle ideal und äußerst feinsinnig umgesetzt. Davon ging die Inspiration für die gesamte Aufführung aus und „trug“ Handlung und Anliegen dieses Drame lyrique. Bei dieser großartigen Wiedergabe auf sehr hohem Niveau war die Musik das bestimmende Element. Allein, wie das Grollen und die Wellen des Meeres in Musik nachgezeichnet oder die Sängerinnen und Sänger einfühlsam unterstützt wurden, war bewundernswert. Letztere verstanden es ihrerseits, die schwierige Balance zwischen Deklamation und klangvollem Gesang zu realisieren.

Das alte Königspaar war mit Christa Mayer als Geneviève und Tilmann Rönnebeck als König Arkel sehr gut und vor allem treffend besetzt. Entsprechend Regie erscheint Christa Mayer als biedere alte Dame und „Hausmütterchen“, mehr Mutter und Großmutter als Königin, aber ihr großartiger melodiöser deklamatorischer Gesang mit allen Feinheiten und klangvoller Stimme wirkten „königlich“. Tilmann Rönnebeck verkörperte sehr glaubhaft den alten König. Seine dunkel gefärbte, kraftvolle, klare Stimme mit der erforderlichen Tiefe und seine ausdrucksstarke Deklamation mit ausgezeichneter Textverständlichkeit prädestinierten ihn zu einem wohlwollend altersweisen Monarchen. Er schien in seiner Rolle zu leben und wirkte sehr echt, wie ein alter Mann und König mit menschlicher Würde, ohne zu übertreiben.

Ähnlich beherrschte auch der stimmgewaltige Oliver Zwarg seine Rolle als Golaud mit entsprechender Dramatik in seiner voluminösen Stimme und mit seinem glaubhaften Spiel. Mehr Dramatik und Expressivität als Klangschönheit lag indessen in der Stimme von Phillip Addis als Pelléas, ließ ihn aber als jüngeren, ungestümen und leidenschaftlicheren der beiden Brüder erscheinen, was durchaus der Rolle entsprach.

 Eine sehr sanfte, zarte, verletzliche und geheimnisvolle Mélisande verkörperte Camilla Tilling. Als Gegenpol zu der oft unsanften Rolle der Männer setzte ihr Gesang immer wieder mit unsagbarer Zartheit und Geschmeidigkeit ein, wie ein Wesen nicht von dieser Welt. Sie traf die Besonderheit dieser außergewöhnlichen Musik mit Stimme und Artikulation und die Besonderheit ihrer Rolle, wenn sie zu Beginn der Handlung die Krone vom „Dachrand“ des Schlosses ins Wasser und später Golauds Ehering in den Brunnen fallen lässt, um scheinbar alles, was mit ihrem äußerlichen Leben verbunden ist, wegzuwerfen. Sie scheint seelisch verletzt und will allein bleiben, bis sie Pelléas‘ Liebe (mehr platonisch) erwidert. Sie trifft das Wesen der immer schwangeren Mélisande, die dennoch keine rechte Bindung zum Leben hat und von der man nicht weiß, warum sie anfangs so unglücklich, rätselhaft, verschreckt und abweisend ist.

 Eine besondere Leistung vollbrachte auch der junge Knabensopran Elias Mädler vom Tölzer Knabenchor als Kind Yniold mit sehr klarer, schöner Stimme und Verständnis für die schicksalhafte Trostlosigkeit seiner Rolle, wenn er ergreifend das schwer zu Begreifende schildet, z. B. wie die vorbeiziehenden Schafe nicht in ihren Stall dürfen, obwohl es Nacht wird, wie ein Vergleich seiner traurigen Situation, so ängstlich und schutzlos fühlt sich das Kind. Hingegen blieb Tomislav Lucic als Arzt eher im Hintergrund. Der Sächsische Staatsopernchor gestaltete aber in der Einstudierung von Wolfram Tetzner sehr beeindruckend die Handlung mit.

Nicht unerwähnt bleiben sollen zwei eindrucksvoll gestaltete Szenen. In einer stummen Szene hörte man zunächst nur das Wasser unter den Füßen der Königin-Mutter plätschern und danach der Bediensteten, bevor sie den mit zwei Schüssen aus Eifersucht von Golaud getöteten Pelléas wegtrugen. In der Schlussszene erscheint das Bett der genesenden und am Ende doch sterbenden Mélisande doppelt, als Handlungsträger und als Gedankenträger der scheinbar ruhigen Mélisande, die in ihren Gedanken den toten Pelléas trifft und nicht mehr wahrnimmt, was um sie herum in der Realität geschieht.

 Zwischen Wagner-Nachfolge und Verismo suchte Claude Debussy nach einem ganz eigenen Stil und schuf mit „Pelléas et Mélisande“ nach dem gleichnamigen, symbolistischen Schauspiel von Maurice Maeterlinck eine Oper zwischen Traum und Wirklichkeit, flüchtig betrachtet, eine „Dreiecksgeschichte“, ein „Eifersuchtsdrama“ mit tödlichem Ausgang, dessen Inhalt sich kaum wesentlich von anderen Dramen dieser Art unterscheidet, nur das Wie der Umsetzung, das Beschreiten neuer Wege in Komposition und Darstellung, ist das Besondere, das Debussys Oper von anderen Opern unterscheidet. Dank Camilla Tilling, Christa Mayer, Oliver Zwarg, Tilmann Rönnebeck, Phillip Addis und der Sächsischen Staatskapelle unter Marc Soustrot wurde das Publikum mittels der rezitativisch-deklamatorischen Musik wie in einem Sog in Gründe und Abgründe der seelischen Prozesse menschlichen Verhaltens hineingezogen, wurde das Unbewusste plötzlich erlebbar. Obwohl die Handlung nur sehr langsam vorangeht, blieb die Spannung immer erhalten. Es gab keine gefühlten „Längen“.

 Ingrid Gerk

 

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