Dresden / Semperoper: DIE NORDISCHE SEELE IM 11. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE DRESDEN MIT PAAVO JÄRVI UND GIDON KREMER – 11.6.2018
Das vorletzte Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden dieser Saison stand unter dem Thema „Zuflucht und Drang“, die Zuflucht in überkonfessionelle Geborgenheit, ein transzendentes Verlangen und die musikalische Umsetzung einer mythischen Legende. Dirigent und Solist hatten mit ihren baltischen Wurzeln das beste Gespür für die Besonderheit der Werke des Esten Arvo Pärt und des Finnen Jean Sibelius, den beiden Säulen des Programmes, bei denen der Schwan, eine in der Musik oft verwendete mythische Symbolfigur, eine dominierende Rolle spielt und eine Brücke zwischen dem ersten und dem letzten Werk des Abends schlug.
Das einsätzige kurze Stück „Swansong“ für Orchester von Arvo Pärt verströmt die Sehnsucht nach einer überkonfessionellen Geborgenheit. Es entstand 2013 im Auftrag der Mozartwoche Salzburg aus Pärts Chorwerk mit Orgelbegleitung „Littlemore Tractus“, das 2001 zum 200. Geburtstag des englischen Theologen, Dichters und Denkers J. H. Newman, aus dessen Predigt „Weisheit und Unschuld“ der Text stammt, aufgeführt wurde.
Meditativ, mit „himmlischen“ Klängen begann die Staatskapelle ihre traumhaft schöne, klangvolle Wiedergabe und steigerte sich unter der dezenten, zielgerichteten Leitung von Paavo Järvi bis zu lautstarker Ausdruckskraft. Die Musiker spielten mit großem Engagement und schöner Durchsichtigkeit, zelebrierten jede Nuance und ließen die einzelnen Stimmen in ihren Beziehungen zueinander deutlich hervortreten, wodurch das gesamte kurze Werk in seiner Struktur deutlich und in seiner mystisch-ästhetischen Sensibilität erlebbar und nachvollziehbar wurde. Es war eine sehr lebendige, intensive und eindrucksvolle Aufführung dieses nur 55 Takte umfassenden Werkes dank der traumhaft schönen klanglichen Umsetzung durch die Kapelle.
Die dreimalige Aufführung dieses „Schwanengesanges“ (9., 10., 11.6.), von der der Komponist und Capell-Compositeur 2017/18, über dessen Lebensstationen und Wirken zurzeit eine Ausstellung im Foyer der Semperoper erzählt, zwei persönlich miterlebt hat, war die vorletzte einer seiner Kompositionen in dieser Saison, der als letzte die Komposition „Trisagion“ für Streichorchester im 4. Aufführungsabend am 4.7.2018 folgen wird.
Ein transzendentes Verlangen fließt auch aus dem, zwischen den beiden „Schwanen“-Kompositionen dargebotenen, „Violinkonzert g‑Moll“ (op. 67) von Mieczysław Weinberg, dem „vergessenen Komponisten“, dessen Leidensweg – geboren 1919 in Warschau, 1939 zu Fuß auf der Flucht von Polen nach Minsk, nach dem dortigen Studium 1941 erneut auf der Flucht nach Taschkent, von Schostakowitsch 1943 nach Moskau geholt, 1953 ins Gefängnis geworfen, wo ihn nur Stalins Tod vor dem Untergang rettete – und die Vernichtung seiner Familie ihn dennoch nicht verbittern, sondern sich in eine pantheistisch gefärbte Religiosität vertiefen ließen. Sein bekanntestes Werk ist die Oper „Die Passagierin“.
Weinberg schrieb sein Violinkonzert 1959 für den Geiger Leonid Kogan. Schostakowitsch, Freund und Förderer von Weinberg, lobte das Konzert vorbehaltlos: „Es ist ein fabelhaftes Werk. Und ich wähle meine Worte mit Bedacht“. Sicherlich ist eine Nähe zu Schostakowitschs Musik spürbar, Schostakowitsch und Weinberg waren eng befreundet und beeinflussten sich gegenseitig, doch es gibt auch sehr viel Individualität darin. Den Solopart spielte Gidon Kremer, der Staatskapelle seit Jahrzehnten eng verbundenen, “Capell-Virtuos“ 2014/15 und mit dem Œuvre Weinbergs bestens vertraut. Er gilt als der kompetente Interpret der Werke Weinbergs, von dem er sagte: “Dieser Mann war viele Jahre unterschätzt, fast vergessen; ich selber lebte mit dem Vorurteil, dass er nur ein zweitrangiger Schostakowitsch gewesen sei. Was für ein Fehler! Er hatte, ganz im Gegenteil, eine absolut eigenständige Stimme“. Und dieser Stimme verlieh Kremer Gehör mit seinem feinsinnigen Violinspiel.
Das Violinkonzert begann mit einem heftigen Paukenschlag, der an Schostakowitsch erinnerte, aber auch das motorische Element wich bald der melodischen Komponente, klaren tonalen Klängen, jüdischer Folklore und teilweise auch einem unverkennbaren Bezug zur Romantik. Kremer setzte seine große Virtuosität und Klangvielfalt ein und ließ es im feinsten Pianissimo auf seiner Violine ausklingen. Bei seiner Zugabe blieb er bei Weinberg und spielte zwei, von ihm selbst auf die Violine übertragene, „Präludien für Violoncello“ mit Leidenschaft und Hingabe.
Ganz anders als bei Richard Wagners „Lohengrin“ oder „Parsifal“ führt der Schwan in der „Lemminkäinen-Suite“ (op. 22) von Jean Sibelius ins Totenreich. Keine Verbindung zu Wagner? – oder doch? Zumindest hatte Sibelius Bayreuth vor Augen und schuf eine eigene nordische Trilogie, quasi ein „Kalevala-Tryptichon“, deren Mittelteil die „Lemminkäinen-Suite“ ist. Der Held, ähnlich dem norwegischen Peer Gynt, entstammt der finnischen Mythologie. In der Liebe zügellos (ein übersteigerter „Tannhäuser“?), will er große Taten vollbringen, Kämpfe bestehen und es selbst mit dem Toten-Schwan aufnehmen, was jedoch misslingt. Nur die Liebe seiner Mutter, die den zerstückelten Leichnam ihres Sohnes aus dem Fluss des Totenlandes fischt und wieder zusammensetzt, erweckt ihn zu neuem Leben – Ende gut – alles gut?
Unverkennbar war in der Musik eine gewisse Affinität zu Wagner zu hören. Trotz abweichender Tonfolgen wähnte man sich bei der plastisch klaren und klangschönen Interpretation der Tondichtung an dessen „Lohengrin“-Vorspiel erinnert. Ein vielstimmiger durchhörbarer Bläserruf eröffnete die tonmalerische Umsetzung der Dichtung. Es wurden große Bögen in atemberaubend aufgeregten und wieder beruhigenden Passagen um die Handlung gespannt. Hier kamen die Qualitäten der Kapelle voll zur Geltung, allein schon bei den extrem sauberen Bläsern, guten solistischen Momenten von Cello, Oboe, Horn, Harfe, Posaune mit Pauke, großem Becken und der Bläsergruppe, die hier nicht nur mit Schönklang, sondern auch schrill klagend in bedrohlicher Kampfsituation des Helden bestach.
Hier wurden finnisches Flair und nordische Mentalität eingefangen, kam unter Paavo Järvis dezentem Dirigat die fremdartige Schönheit der Musik zum Ausdruck. Nach leisen, „getupften“ Klängen für die Liebe der Mutter zu ihrem Sohn ging es mit lautem Getümmel bei dem letzten Abenteuer mit allen möglichen Instrumenten, vor allem Bläsern und Schlagzeug – wie fast immer – zum abschließenden lauten Schluss-„Taumel“, den das Publikum so liebt, denn dann brandet der Beifall los.
Bevor der Dirigent seinen Blumenstrauß erhielt, tat sich hinten im Orchester etwas, ein Kapell-Musiker erhielt einen Blumenstrauß und freundliche Worte. Wie man netterweise aus dem Beilage-Blatt des Programmheftes erfuhr, wurde der 1./3. Trompeter der Staatskapelle, Siegfried Schneider, von seinen Kapell-Kollegen in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Es gab Zeiten, da ließ es sich der Intendant des Hauses nicht nehmen, mit einigen würdigenden Worten vor dem Orchester unter Anteilnahme des Publikums die kleine Ehrung vorzunehmen. Wie wäre es, wenn das ein Vertreter des Orchesters übernehmen würde? Das Publikum möchte auch gern unmittelbar teilhaben, zumal es „seine“ Musiker kennt und verehrt, und die Musiker hätten es verdient.
Ingrid Gerk