Dresden/Frauenkirche: DIE „BRANDENBURGISCHEN KONZERTE“ VON J. S. BACH MIT DEN BERLINER BAROCKSOLISTEN“ – 21.4.2018
Kuriositäten in der Geschichte gibt es viele. Eine davon sind die Begegnungen J. S. Bachs mit Sachsen und Preußen, den beiden Ländern, die in der Geschichte so manche „Animosität“ und Zwietracht bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen miteinander ausfochten. Bach war mittendrin und unpolitisch. Er war von beiden Seiten begehrt.
In Thüringen (Eisenach) geboren, verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens in Sachsen (Leipzig) und schickte von Köthen (Sachsen-Anhalt) aus „Sechs Konzerte mit mehreren Instrumenten“ an den Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt, den er 1719 auf einer Dienstreise in Berlin kennengelernt hatte und der von ihm dermaßen begeistert war, dass Bach versprach, ihm bald ein Werk zu widmen, was er erst drei Jahre später mit diesen sechs bereits vorhandenen Konzerten einlöste, die später den Titel „Brandenburgische Konzerte“ (BWV 1046–1051) erhielten und sich jetzt beim Publikum einer Popularität wie Mozarts („Kleine Nachtmusik“) oder Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ erfreuen.
Der König von Preußen, Friedrich II., über seinen Flötenlehrer Friedrich Agricola, sogar ein Enkelschüler Bachs, empfing den Altmeister 1747 an seinem Hof in Ehren. Später ließ er die Dresdner Frauenkirche im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) beschießen und befahl: „Lass er den alten Dickkopp stehen!“, als sie wegen ihrer aus Sparsamkeitsgründen in Sandstein errichteten Kuppel (statt Kupferblech) keine Wirkung zeigte (sie kam erst 1945 zu Fall).
Jetzt kamen die Berliner Barocksolisten, 1995 von Mitgliedern der Berliner Philharmoniker und führenden Musikern der Berliner Alte-Musik-Szene gegründet, in diese (wiedererrichtete) Kirche und erfreuten die Sachsen und Touristen mit eben diesen Brandenburgischen Konzerten, dem gleichen Programm, das sie zuvor (18.4.2018) im Wiener Musikverein geboten hatten (s. Kritik im NEUEN MERKER – online von Karl Masek).
Dass alle sechs Konzerte an einem Abend erklangen ist nicht unüblich, nicht nur, weil sie zeitlich gerade dem üblichen Umfang eines Konzertes entsprechen, sondern vor allem in ihrer Mannigfaltigkeit durch die Vielzahl der solistisch bedachten Instrumente, unterschiedlichste Satzformen und Einflüsse des italienischen, französischen und deutschen Stils immer für Abwechslung und Kurzweil sorgen und – gut gespielt – mühelos jeden Zuhörer erreichen.
Bach wollte offenbar die ganze Bandbreite der vielfältigen Besetzungsmöglichkeiten, seine vielen Ideen und sein vielfältiges Konzertschaffen präsentieren sowie die praktischen Einsatzmöglichkeiten für alle Gelegenheiten und die zur Verfügung stehenden Musiker zeigen – zur damaligen kein unwesentliches Kriterium. Er konnte für jede Besetzung komponieren und alles so „arrangieren“, dass immer der Eindruck entstand, es könnte nur so und nicht anders sein.
Die Reihenfolge der Konzerte war nicht chronologisch angeordnet, sondern so gewählt, dass das Programm ausgewogen und voller Abwechslung immer wieder neu überraschen konnte. Am Pult stand Barockspezialist Reinhard Goebel, der die Alte-Musik-Szene seinerzeit in Deutschland mit einer damals neuen, „alten“ Musizierpraxis und seiner reichen Forschungstätigkeit angestoßen hat. Damals leitete er zwei Kölner Alte-Musik-Ensembles als Erster und Barockgeiger. Später verließ er sie, um größere, moderne Orchester zu dirigieren. Jetzt kehrte er zur Barockmusik zurück und dirigierte mit modernem Taktstock und ausladenden Gesten, was nicht unbedingt der Barockzeit entsprechen dürfte, denn damals wurde die Kammermusik, und dazu gehören die „Brandenburgischen Konzerte“, vom Cembalo aus oder bestenfalls mit der Notenrolle dirigiert.
Vor allem aber entsprach das atemberaubende Tempo, das den Bläsern im wahrsten Sinne des Wortes den Atem berauben konnte, wohl kaum einer historisch informierten Aufführungspraxis, um die sich Goebel seinerzeit verdient gemacht hat. Die sehr guten Musiker hielten mit diesem Tempo mit bewundernswerter Fertigkeit mit und musizierten erstaunlich sauber, nur dass der Ton nicht ausschwingen konnte und dadurch viel von der Klangschönheit, die einen wesentlichen Anteil am Reiz dieser Konzerte ausmacht, verlorenging. Musik ist doch kein Sport. Schnelligkeit allein macht noch keine gute Musik. Hier sollte es nicht darum gehen, wer am schnellsten musizieren kann, auch wenn das gegenwärtig gerade „in“ ist, sondern wer das Werk am besten zur Geltung bringt.
Das einleitende „Brandenburgische Konzert Nr. 1 F‑Dur für 2 Hörner, 3 Oboen, Fagott, Violine piccolo, Streicher und Basso continuo (B. c.)“ stand nicht nur im Programm an erster Stelle, sondern auch in Bezug auf Schnelligkeit. Es wurde von Goebel regelrecht „durchgepeitscht“. Da waren ein paar minimale „Kiekser“ bei den Bläsern mehr als verständlich. Ansonsten spielten die Musiker bewundernswert sauber und mit dem Duktus der Barockmusik.
Beim anschließenden „Konzert Nr. 5 D‑Dur für Traversflöte, Violine, Streicher und B. c.“ waren die Musiker „sich selbst überlassen“. Was hätte Goebel auch während des langen Cembalo-Solos, das Bach sehr wahrscheinlich für sich selbst komponiert hat – er wurde als ausgezeichneter Cembalospieler gepriesen – auch dirigieren wollen? Raphael Alpermann gestaltete diesen Part „in eigener Regie“ mit Sinn für Feinheiten, kontrastierende Klangwirkungen und musikalischem Gespür, mitunter leicht ritardierend, aber ohne irgendwelche „Längen“.
Bei der Wiedergabe dieses Konzertes stimmte einfach alles. Das Tempo war auch flott, aber eben genau richtig. Hier ließen die Musiker das berühmte „Zünglein an der Waage“ spielen. Mit „Fingerspitzengefühl“ und gutem musikalischem Empfinden ließen sie den Klang ihrer Instrumente, insbesondere der Holzflöte (Jacques Zoon), aber auch aller mitgestaltenden Instrumente voll zur Wirkung kommen. So konnte man sich eine Musizierrunde der Barockzeit am Fürstenhof vorstellen, besinnlich, beschaulich, kurzweilig und geistig inspiriert.
Anschließend hetzte Goebel die Musiker wieder durch das nächste Konzert, die „Nr. 3 G‑Dur für 3 Violinen, Violen und Violoncelli und B. c.“ und nach der Pause durch das „Konzert Nr. 4 G‑Dur für Violine, 2 Blockflöten, Streicher und B. c.“. Man war aufgrund des enormen Tempos immer in Erwartung irgendwelcher kleinen Diskrepanzen, aber die blieben erfreulicherweise bei diesen versierten Instrumentalisten aus.
Die sehr guten Musiker setzten sich mit ihrer Musikalität und Gespür für Barockmusik, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangen zu sein schien, für Transparenz, Klangschönheit und Kantabilität ein und brachten mit den beiden virtuos und liebevoll zugleich und in schöner Synchronität gespielten Blockflöten (Kerstin Fahr und Isabel Lehmann) doch noch die ersehnte Klangschönheit. Dennoch konnte in den beiden Konzerten nicht ganz die ausgeglichene Musizierfreude wie in dem von den Musikern „pur“ genussreich interpretierten „Konzert Nr. 5“ erreicht werden.
Man hoffte noch einmal auf ein Konzert in kleiner Besetzung „ohne Dirigenten“, z. B. beim „Konzert Nr. 6 D‑Dur für 2 Violen. 2 Viole da Gamba, Violoncello und B. c.“, aber vergebens. Goebel dirigierte hier ausnahmsweise sitzend, weil es ihm vermutlich doch nicht angemessen erschien, eine so kleine Besetzung „tatkräftig“ zu leiten, aber er war dabei.
Als letztes wurde das „Konzert Nr. 2 F‑Dur für Tromba, Flauto dolce, Oboe, Violine, Streicher und B. c.“ durcheilt. Hektische Dirigierweise und überflüssige „Einsätze“ wären bei diesen Musikern nicht vonnöten. Sie hören vor allem aufeinander und haben intuitiv das richtige Gespür.
Der Beifall am Ende war herzlich und auch begeistert, aber irgendwie schien das Publikum nach diesem „sportlichen Lauf“ auch etwas „erschöpft“.
Ingrid Gerk