Chemnitz: „DIE HERZOGIN VON MALFI“ – 5. 5.2013
Zur Premiere verließen einige konsternierte Besucher die ohne Pause gegebene deutsche Erstaufführung. Kurz darauf entrüstete sich der Vorsitzende einer hiesigen Elternvereinigung über ein Plakat der Chemnitzer Theater, das einen jungen Mann zeigt, der sich mit blutverschmiertem Munde über eine Frau beugt, deren Halspartie gleichfalls Blutspuren aufweist. Somit durfte man gespannt sein, welche Reaktionen Torsten Raschs Webster-Oper bei einem Publikum hervorrufen würde, das sich an diesem Nachmittag vorrangig aus Senioren rekrutierte. Nun, von einem Eklat konnte keine Rede sein. Wenn ich mich nicht täusche, nahmen maximal zwei bis drei Anwesende ihr Verweigerungsrecht wahr, und das, obwohl Regisseur Dietrich Hilsdorf seiner vom Grauen des Stoffes inspirierten Fantasie keinesfalls Zügel anlegte. Da labt sich der degenerierte Ferdinand wollüstig an den blutigen Innereien eines Gehenkten, wird der soeben vergewaltigten Zofe Cariola siedendes Kerzenwachs über die Blöße geträufelt, die mit einer vergifteten Bibel massakrierte Prostituierte Julia landet kurzerhand im Kühlschrank. Bei all dem bleibt der Regisseur jedoch hart am Stück, leistet sich nur ein einziges Mal eine Peinlichkeit, indem er auf ein Grabgebinde (?) urinieren lässt.
Der ehemalige Kruzianer Torsten Rasch schuf diese, seine zweite Oper im Auftrag der English National Oper. Ian Burton verfasste das Libretto nach dem gleichnamigen Renaissancethriller John Websters, dem er freilich das letzte Fünkchen Hoffnung (der überlebende Sohn der Herzogin tritt das Erbe an) raubt und sich zur schlimmstmöglichen Wendung bekennt. Raschs Musik biedert sich durchaus nicht beim Hörer an, vermeidet es andererseits, denselben mit martialischen Missklängen zu vergnatzen. Künden eingangs lasziv flirrende Streicherpassagen beim Begräbnis des Herzogs kommendes Unheil an, so charakterisieren Holzbläser die Welt der Julia, auf deren Basis sie ihre ätherisch anmutenden Kantilenen gleich einem duftigen, hauchzarten Gewebe spinnt, japanische Schlaginstrumente tragen zum geheimnisvoll Hintergründigen dieser Musik bei, wie Rasch andererseits aber auch mit gewaltig aufbrausenden Orchestertutti zu punkten versteht. Frank Beermann und die Robert-Schumann-Philharmonie stehen voll und ganz hinter und zu diesem Projekt, warten mit einer orchestralen Leistung auf, die den impressionistischen Valeurs der Partitur ebenso gerecht wird wie deren expressiven Ausbrüchen. Diesem rückhaltlosen Bekenntnis der Chemnitzer Musikanten zum Komponisten entsprach nicht zuletzt der Auftrag, aus dem Material der Oper eine Konzertsuite unter dem Titel „Das Haus der Temperamente“ zu filtern, die unterdessen in einem der jüngsten Konzerte der Philharmonie ihre erfolgreiche Feuertaufe erlebte.
Dietrich Hilsdorf beweist sich im Anklänge an Gemälde alter Meister mit Gegenwärtigem verquickendem Bühnenbild Dieter Richters (die prächtigen Kostüme entwarf Renate Schmitzer) zum wiederholten Male als Mann, der sowohl in Bezug auf die Entwicklung und Führung der Figuren als auch beim Entwurf beeindruckender Arrangements Gültiges zu leisten imstande ist. In diesem Zusammenhang glückt auch den Damen und Herren des Chores (Einstudierung: Simon Zimmermann) wie den von der Regie wieder einmal mit besonderer Akribie bedachten Mitgliedern der Komparserie (z. B. Insassen des Tollhauses) Bezwingendes.
In der Titelpartie machte Tiina Penttinen mit ihrem in erotischer Glut changierenden Mezzo die faszinierende Ausstrahlung der Giovanna ohne vordergründiges Beiwerk überaus glaubhaft, blieb der Sehnsucht der Herzogin nach erfüllter Sinnlichkeit nichts schuldig. Den schwierigen Part des Ferdinand, dem der Komponist atemberaubende Tonsprünge aus countertenoralen Extremen in baritonale Lagen vorgegeben hat, meisterte der darstellerisch gleichermaßen virtuose Iestyn Morris atemberaubend. Eisige Kälte strahlte der Kardinal Kouta Räsänens, sekundiert von seines Basses Autorität, aus. Eine fantastische Charakterstudie war Andreas Kindschuh zu verdanken, dem der zwielichtige Bosola förmlich auf den Leib geschneidert schien. Mit Hilsdorf dürfte der Künstler seinen Regisseur, und mit Kindschuh Hilsdorf seinen Darsteller gefunden haben. Die schwindelerregenden Höhen der Julia bereiteten Sarah Yorke keinerlei Schwierigkeiten. Und wie man in stummen Rollen einer Inszenierung mustergültig zum Erfolg verhelfen kann, führten Muriel Wenger (die geschundene Cariola), Dirk Lange (Giovannas zweiter Mann) und Peter Heinicke (jahrzehntelanges bewährtes Mitglied der Komparserie!) als Julias Ehegespons bravourös vor.
Und das Publikum? Es verfolgte das Gebotene diszipliniert und geizte nicht mit Beifall, der u.U. eher der Aufführung als dem Werk galt, denn bei aller Anerkennung des von Rasch mit dieser Oper Geleistetem, die außerordentliche Qualität von Eötvös‘ „Liebe und andere Dämonen“ (für diese ebenfalls von Hilsdorf verantwortete Inszenierung musste die Chemnitzer Theaterleitung zusätzliche Vorstellungen anberaumen) erreichte dieses Werk nicht.
Joachim Weise