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BUENOS AIRES: DER RING DES NIBELUNGEN – „ColónRing“ – Gesamtbericht

29.11.2012 | KRITIKEN, Oper

BUENOS AIRES: DER RING DES NIBELUNGEN / „ColónRing“ – Premiere am 27.11.2012

 
Teatro Colón. Foto: Dr. Klaus Billand

Nun ist er also über die Bühne, der so viel diskutierte und mit Spannung erwartete ColónRing am Teatro Colón in Buenos Aires. Er begann um 14:30 Uhr mit je einer Pause nach „Das Rheingold“, „Die Walküre“ und „Siegfried“ und endete, man sollte es kaum glauben, um 23:15 Uhr! Damit dürfte wohl ein Guinness-Rekord aufgestellt worden sein, wenn man, und das ist bei der Kurzfassung des Musikers und Produzenten Cord Garben sicher zulässig, von Richard Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ als einer Oper ausgeht. Aber um einen Rekord ging es hier ganz und gar nicht. Der Anstoß zu dieser Kurzfassung der Tetralogie kam von außen. Garben war im australischen Brisbaine, und die Intendantin der Oper von Adelaide beklagte sich, dass sie sich den kompletten „Ring“ nicht leisten könnten. Als er daraufhin fragte, ob es mit einer Kurzfassung ginge, sagte sie begeistert ja. Daraufhin sah er sich die Partitur genauer an und kam zu dem Schluss, dass die vielen Erzählungen und Rückblicke entbehrlich seien. Garben glaubt auch, dass Wagner den „Siegfried“ ausgedehnt habe, um dieses Stück in Einklang mit den anderen beiden großen Teilen und dem kürzeren „Rheingold“ als erklärendem Vorabend zu bringen. Dieses könne man auch rückgängig machen. So machte er sich mit einer schon 1888 von Giacomo Puccini angewandten Technik für „Die Meistersinger von Nürnberg“ ans Werk, die damals zu einer Kürzung von etwa einem Drittel führte.

 Die Premiere am Colón wurde in vielerlei Hinsicht ein bedeutendes Ereignis und wird sicher Folgen für die „Ring“-Rezeption haben, auch wenn noch lange nicht alle Striche Garbens, der jedoch keine Note, beispielsweise um Übergänge zu glätten, hinzu komponierte, gleich oder überhaupt nachvollziehbar sind. Es ist ja in der Tat auch kein einfaches Unterfangen, aus 16 Stunden normaler „Ring“-Spielzeit nur sieben Stunden mit einem Wurf zu machen. Der vor nicht allzu langer Zeit noch intakte Werkstatt-Charakter von Bayreuth könnte aus diesem Experiment, als das es der Dirigent der Erstaufführung, Roberto Paternostro, in einer Pressekonferenz in Buenos Aires bezeichnete (im Online-Merker berichtet), ein interessantes Modell für eine neue „Ring“-Wahrnehmung machen. Dass dafür in Buenos Aires Eintrittspreise von umgerechnet €570 im Parkett und den Parterre-Logen bezahlt wurden, ist selbst für europäische Verhältnisse außergewöhnlich und zeigt auch, welche Erwartungen auf diesem Projekt lagen. Was aber verwundert ist, dass die Galerie und oberen Ränge zu großen Teilen frei blieben. Die Kartenpolitik war wohl so, dass auch diese Plätze noch viel zu teuer waren, als das dort normalerweise anzutreffende (und weniger einkommensstarke) Publikum gewohnt war und sich deshalb kein Ticket leisten konnte. Ein volles Haus mit diesem Preisniveau wäre aber selbst in Wien und München kaum vorstellbar.

 Nun gab es im deutschen und argentinischen Blätterwald – und nicht nur dort – viel Unruhe und Diskussion um den Ausstieg von Katharina Wagner als Regisseurin der Produktion nur einen Monat vor der Premiere. Wer zur Genesis und Entwicklung dieses Projekts und den Umständen des Wechsels der Regie von Katharina Wagner auf die junge Argentinierin Valentina Carrasco mehr erfahren möchte, sei auf einen Artikel des Verfassers im Online-Merker verwiesen, unter https://onlinemerker.com/infos-des-tages-donnerstag-22-november-2012.
Hier soll die Besprechung der Premiere und des Kürzungskonzepts im Vordergrund stehen.


Das Rheingold“. Foto: Teatro Colón

 Valentina Carrasco, die seit langem mit La Fura dels Baus arbeitet, aber ein völlig eigenständiges Konzept präsentieren wollte, spielte auf das ungeklärte Verschwinden von Säuglingen und Kindern während der argentinischen Militärdiktatur von 1976-1983 an, auch heute ein noch viel diskutiertes Thema, das schon zu einer Reihe von Prozessen geführt hat. Ja, sie konnte aktueller kaum sein, denn in derselben Bonarenser Tageszeitung, in der die Premiere besprochen wurde, stand am 29. November ein langer Artikel über den Prozessauftakt gegen 67 Angeklagte zu 789 Fällen in der ESMA (Escuela de Mécanica de la Armada), unter denen Entführungen, Folter, Sklavenarbeit und das Verschwinden von Regimegegnern figurieren. Carrasco hatte für dieses gewagte Regiekonzept nach dem Ausstieg Katharina Wagners nur vier Wochen Zeit, konnte aber auf die Bühnenbilder von Frank Schlössmann bauen, die dieser noch mit K. Wagner erarbeitet hatte und Carrasco in kollegialer Weise überließ. Von einem Regiekonzept K. Wagners war offenbar wenig überliefert. Schlössmann baute im Wesentlichen auf die große Drehbühne des Colón, mit der er die ständigen Szenenwechsel ohne Vorhänge gestalten konnte und dabei immer wieder eindrucksvolle Bildwirkungen erzielte, intensiviert durch die gute Lichtregie von Peter van Praet. Das Hauptelement ist ein stählerner zweigeschossiger Bau, der in seinem Design an die Gibichungenhalle Schlössmanns in der „Ring“-Produktion Tankred Dorsts in Bayreuth 2006 erinnert, damals im Stile D’Annunzios konzipiert. Hier wirkt sie eher wie das Treppenhaus des Berliner Tacheles, mit all den abgerissenen Plakaten, Papierfetzen und Graffitis. Mit einem großen vorgelagerten, vielfach aufgefächerten Podest im Halbrund der Drehbühne entsteht somit eine dreidimensionale Spielfläche, die die verschiedensten Raumbildungen und Einzelszenen bisweilen nahezu unmerklich wie in jeweils neuen Bühnenbildern erscheinen lässt.


Linda Watson in „Die Walküre“. Foto: Teatro Colón

 Carles Berga adaptierte dieses Bühnenbild für das neue Regiekonzept und sorgte ebenso wie Nidia Tusal mit profanen Kostümen unserer Zeit für einen kräftigen Schuss regietheatralischer Ästhetik, die somit auch ein Stück argentinischer Realität und Vergangenheit bildlich nachvollziehbar aufgreift. Da sind die völlig verwahrloste und zugemüllte Behausung Hundings sowie das nicht gerade einladende Junggesellenambiente von Mime und Siegfried zu nennen, aber auch die Rheintöchter im „Rheingold“, die als Hausfrauen mit dem Putzen der Fische aus dem Rhein beschäftigt sind. Sie hüten nebenbei ein Baby, das sich bald darauf, wenn es von Alberich geraubt wird, als das Rheingold herausstellt. Carrasco will zeigen, dass Besitz und Macht über willenslose Menschen, die im Extremfall völliger Versklavung ausgesetzt werden können, auch im Sinne eines frühkapitalistisch verstandenen Produktionsfaktors, totale Macht und Reichtum bedeuten. Und genau darum wird in diesem ColónRing gestritten. Beklemmend gerät in diesem Sinne der Abstieg nach Nibelheim, wo man hinter transparenten Vorhängen schemenhaft das gnadenlose Herausreißen Neugeborener aus den Leibern der vor Schmerzen schreienden Regimegegnerinnen gewahrt, deren leblose Körper zur Seite geschafft werden. Oben sammeln sich die Babies in Brutkästen als Alberichs Weltverknechtungsschatz. Wotan, als peronistischer Armeegeneral kostümiert, ist sich kurz darauf nicht zu schade, mit den nun bereits etwas älteren und völlig verängstigten Kindern Freia abdecken zu lassen. Kurz darauf reißen sie Fasolt und Fafner, der stets mit einer Kohorte aus Schlägern anrückt, um Aufteilung des „Horts“ brutal auseinander. Das waren Szenen, die unter die Haut gingen.

 Im „Siegfried“ hält sich Fafner diese Kinder als „Schatz“ im Keller des berühmten Obelisken auf der Plaza de Mayo vor der Casa Rosada, dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, wo immer wieder politische Proteste stattfinden. Im Bezug auf das Regiekonzept von Carrasco ist der Protest der Madres de la Plaza de Mayo hervorzuheben, mit dem Mütter immer wieder an das illegale Verschwinden ihrer Kinder während der Militärdiktatur erinnern. Die Rheintöchter gehören hier wohl auch zu ihnen. In der „Walküre“ mit vielen gefallenen Soldaten während des Walkürenritts geht es äußerst martialisch zu. Die Szenen lassen den ebenfalls unter den Militärs 1982 begonnenen Falklandkrieg wieder aufleben, und Brünnhilde ist offenbar selbst in militärischem Auftrag unterwegs.

 Carrasco und ihr Team sorgen jedoch immer wieder auch für mythische Elemente. So ist der Waldvogel durch eine Vielzahl von Händen wie ein singender Wald zu erleben, während die Stimme wundersam anmutig aus der Kuppel des Zuschauerraumes erklingt. Szenenwechsel werden mit chiffrierten, teilweise auch politisch thematisierenden Videos überblendet. So sieht man während „Siegfrieds Rheinfahrt“ Amazonasdampfer über den Riesenfluss im Norden des Subkontinents gleiten. Auch einige mystisch wirkende Feuerassoziationen auf einem Gaze-Vorhang, der immer wieder verwendet wird, zeigen starke Wirkung, stets in Harmonie mit der Musik. Die dezenten kleinen Kerzen, die den Feuerzauber symbolisieren, passen zu diesem zutiefst an Humanismus appellierenden Konzept. Das Licht der Hoffnung ist klein, aber es brennt… In der „Walküre“ sieht man, wie Sieglinde von Hunding – ähnlich wie in der „Ring“-Produktion der Fura dels Baus in Valencia 2009, an der Carrasco mitwirkte –  wie ein Hund an der Leine gehalten wird. Sie kann kaum noch aufstehen, als Siegmund sie befreit – auch das ein intensiver Moment zurückkehrender Menschlichkeit.

 Die Bühne ist, zumal in der „Götterdämmerung“, wohl im Hinblick auf den martialischen und menschenverachtenden Hintergrund, in tristen Grau- und Blautönen gehalten. Kontraste setzen blutrote Vorhänge in der Gibichungenhalle – diese Farbwahl sicher auch kein Zufall. Weniger überzeugend ist hingegen die bourgeoise Golfspieler-Gesellschaft der Gibichungen: Siegfried wird von Gunther in der Rheinszene bei albern wirkenden Schlagversuchen beraten, übrigens gerade noch bei Kriegenburg in München zu sehen. Hagen muss ihn dann mit einem Golfschläger von hinten erschlagen…

 Am Ende schließt sich in der Tat einmal der „Ring“: Nachdem Hagen von den Überlebenden, die in großer Zahl auf der Bühne stehen, gelyncht worden ist und die Rheintöchter lächelnd ihr wieder gewonnenes Baby präsentiert haben, kommen die Kinder aus den Verliesen hervor und laufen beglückt in die Arme ihrer Eltern. Ein sehr menschliches Ende, und damit eine große Hoffnung. Auch wenn der politische Bezug zur argentinischen Geschichte nicht immer stringent erkennbar war, schaffen Carrasco und ihr Team einen interessanten und oft packenden Spagat zwischen dem aktualisierenden Themenbezug und dem Mythos des „Ring“, und das in nur vier Wochen, wo andere zwei bis drei Jahre Zeit haben – ein großer Erfolg!

 Nach einem szenisch und teilweise auch musikalisch – nicht zuletzt aufgrund der heftigen Striche – noch recht unentschiedenen Beginn mit dem etwa 80-minütigen „Rheingold“ steigerte sich die Publikumszustimmung signifikant mit der „Walküre“, zumal auch für das Orchesta Estable des Teatro Colón, das durch Musiker des Symphonischen Orchesters von Buenos Aires verstärkt und ergänzt wurde. Der bewundernswert konditionsstarke Roberto Paternostro, der den ganzen Tag – muss man ja sagen – die musikalische Leitung hatte, bekam nach der „Walküre“ beherzten Applaus und auch starken Auftrittsapplaus vor dem „Siegfried“. Es ist hier festzuhalten, dass ein kompletter „Ring“ von Roberto Oswald zuletzt 1995-99 unter der musikalischen  Leitung von Franz Paul Decker am Colón gespielt wurde, den der Rezensent auch erlebte, wie den neuen Versuch mit Francesca Zambello unter Charles Dutoit 2004-05, der aber nach der „Walküre“ abgebrochen wurde. Seit sieben Jahren hat dieses Orchester zwar einige Wagner-Aufführungen gespielt, aber keinen „Ring“ mehr. Vor diesem Hintergrund ist die Leistung, auch wenn hier und da kleinere Unregelmäßigkeiten und gegen Ende wohl auch durch Ermüdung bedingte Hornschmisse zu hören waren, ganz beachtlich. Tiefgründig und homogen klangen die Wagnertuben, von sehr jungen Musikern gespielt. Schön und filigran waren die Harfen in den Proszeniumslogen zu hören. Die guten Streicher sorgten für einen stets intensiven Klangteppich, der dennoch große Transparenz der guten Holzbläser ermöglichte. Der Wagnersound erinnerte mit den Vorspielen und symphonischen Zwischenstücken wie Feuerzauber, Aufstieg zum Brünnhilde-Felsen im „Siegfried“, „Siegfrieds Rheinfahrt“, Trauermarsch und Finale der „Götterdämmerung“ an die großen Zeiten des Colón und fand starken Widerhall im Publikum am Schluss für Paternostro und seine Musiker. Hier ließ er das Orchester voll aufspielen, während er es bei den SängerInnen gefühlvoll zurücknahm.

 Der musikalische Erfolg kam aber auch durch die Sänger und Sängerinnen zustande. Linda Watson gewann schnell die Herzen des Publikums mit einer emphatisch agierenden und stimmlich beeindruckenden Brünnhilde, insbesondere mit ihrer voll klingenden Mittellage, die sie bei bester Diktion gut zu phrasieren versteht. Hier merkte man in jedem Moment langjährige Wagner- und Bayreuth-Erfahrung. Marion Ammann glänzte wieder einmal als Sieglinde mit einer ungewöhnlich intensiven Emphase und Mimik in der Darstellung der hier sehr schwierig konzipierten Rolle, zumal sie eine ganze Zeit lang am Boden kriechen musste. Umso herrlicher blühte ihr jugendlich klangvoller und total höhensicherer Sopran auf, nachdem sie Siegmund ins Menschsein zurückgeholt hatte. Stig Andersen konnte immer noch mit einem stimmstarken und charismatischen Siegmund überzeugen, denn er singt ja schon sehr lange in diesem Fach. Er war für den absagenden Torsten Kerl eingesprungen. Jukka Rasilainen gab den Wotan und ein paar Takte des Wanderers mit einer höhensicheren, aber relativ unbeweglichen Stimme und spielte zu ausdruckslos. Hier wären stärkere dramatische Akzente nötig gewesen, um auch in den Szenen mit Brünnhilde mehr Wirkung zu erzielen. Leonid Zakhozhaev ließ als Siegfried darstellerisch, und mehr noch stimmlich, trotz bisweilen guter Höhe zu wünschen übrig. Wenn er auch durch besonders viele und lange Striche im „Siegfried“ szenisch zu kurz kam, konnte sein Siegfried nie wirklich einnehmen. Es fehlte an Charisma und auch des Öfteren an sauberer Stimmführung. Die Höhen gelangen nicht immer ganz so wie gewünscht. Simone Schröder war eine glänzende Fricka mit klangvollem Mezzo, während Sabine Hogrefe als Gutrune und Helmwige mit Höhenproblemen zu tun hatte, die nach ihren Brünnhilde-Auftritten in Deutschland zu denken geben. Daniel Sumegi sang Fasolt, Hunding und Hagen mit allzu kehliger,  belegt wirkender Stimme, machte aber schauspielerisch etwas von diesem Manko wett. Gary Jankowski war ein stimmstarker Fafner im Rollstuhl, als solcher also etwas passiv, war aber stimmlich als Persönlichkeit stets voll präsent. Andrew Shore war ein guter „Rheingold“-Alberich (im „Siegfried“ gestrichen) mit leichten Höhenproblemen. Stefan Heibach sang einen vorwiegend lyrisch und gut artikulierenden Loge. Aufhorchen ließ der charismatische Mime von Kevin Connors mit seinem Rollendebut, der Siegfried auch tenoral manchmal mehr als Paroli bot und eine fast verrückt wirkende Rollenstudie vorführte – ein großes Talent. Gérard Kim sang einen geschmeidigen und lyrisch betonten Gunther, mit nicht allzu großer Stimme. Sonja Mühleck-Witte war eine wenig klangvolle Freia und später auch als Gerhilde zu hören. Silja Schindler sang stimmlich besser als Waldvogel denn als Woglinde und Ortlinde. Dagegen überzeugte Bernadett Fodor mit einem schönen Mezzo als Flosshilde und Schwertleite. Uta Christina Georg komplettierte mit einer nicht allzu runden Stimme das Rheintöchter-Terzett und bildete mit Manuela Bress als Rossweiße, Susanne Geb als Waltraue in der „Walküre“ und Adriana Mastrángelo als Siegrunde den Rest des Walküren-Oktetts, das insgesamt nicht allzu homogen und klangschön sang. Die übrigen „Ring“-Charaktere, die hier nicht genannt sind, wurden weggelassen. Der Coro Estable des Teatro Colón, von Peter Burian einstudiert, sang auf hohem stimmlichem Niveau bei großer Transparenz und Wortdeutlichkeit – ein absoluter Höhepunkt in der „Götterdämmerung“, von denen einige gewohnte fehlten.


Schlussapplaus nach „Götterdämmerung“, an der Rampe Roberto Paternostro. Foto: Dr. Klaus Billand

 Und damit wären wir bei den Strichen von Cord Garben, die dem ColónRing ganz besondere Aufmerksamkeit bescherten, der aber gleichwohl im sonst detailliert auf alle Akteure eingehenden Programmheft als einer der Hauptverantwortlichen nicht vorgestellt wurde. Im Prinzip war seine Idee, jene Stellen zu kürzen oder gar wegzulassen, bei denen es sich um Rückblicke handelnder Personen wie Wotan im 2. Aufzug der „Walküre“ oder philosophische Betrachtungen wie jener der Erda und der Nornen handelt. Auch einige der Personen, die nach seiner Ansicht nicht (wesentlich) zur Handlung beitragen, wurden weggelassen, wie Donner und Froh, der Wanderer bis zum Dialog mit Siegfried im 3. Aufzug, die Waltraute und die (singenden) Rheintöchter in der „Götterdämmerung“. Die großen symphonischen Orchesterstücke wurden hingegen weitgehend beibehalten, wenn auch nicht alle und auch nicht alle relevanten. Wenn man unvoreingenommen an die Sache herangeht, erscheinen viele Striche nachvollziehbar und im Sinne einer Kürzung der Stücke sinnvoll. Sie sind oft harmonisch so gut gesetzt, dass man sie kaum bemerkt. Das war insbesondere in „Rheingold“ und „Siegfried“ zu beobachten. Dieser dauerte gerade einmal knapp 90 Minuten. Hier zeigte sich, dass die Idee und das Konzept massiver Kürzungen tragen. Allerdings wirkte durch das nahezu vollständige Weglassen der reflektiven und philosophisch konzipierten Szenen der Handlungsablauf bisweilen zu sehr auf reine Aktion beschränkt. Die persönliche Entwicklung der Akteure sowie die Beweggründe ihres Handelns, und das betrifft besonders die Figur des Siegfried, blieben im Dunkeln. Hier empfiehlt sich doch sehr das Öffnen diverser Striche bei einer dann etwas längeren Gesamtdauer, die aber zu einer konsistenteren und damit auch verständlicheren Dramaturgie führt, in einer etwas weiteren Annährung an die von Wagner gewollte. Auch waren bei einigen Strichen harmonische Brüche zu hören, die überarbeitet werden sollten.

 Konkret erscheint es in diesem Sinne angezeigt, folgende Striche zu öffnen: Die Erda-Szene im „Rheingold“, volles Ausmusizieren aller Orchesterstücke zwischen den vier „Rheingold“-Bildern; etwas mehr vom Dialog Siegmund-Sieglinde im 1. Aufzug der „Walküre“, die folgende Schwertgewinnung „Nothung…“ und der Auftrittsdialog von Wotan und Brünnhilde mit ihrem „Hojotoho“ im 2. Aufzug, sowie die Auseinandersetzung zwischen Wotan und Fricka, ein Dreh- und Angelpunkt des „Ring“ und alles andere als nur Rückblick; ein länger ausgeführtes Schmiedelied im „Siegfried“, sowie wohl auch die dritte und so wichtige Wissenswette des Wanderers mit Mime, das Waldweben und damit Siegfrieds Gedanken über seine Herkunft im 2. Aufzug, sowie das Vorspiel zum 3. Aufzug mit Teilen der Szene Wanderer-Erda. Und last but not least, in der „Götterdämmerung“, wenn man schon ganz auf die Nornen verzichten will, zumindest der wichtigere Teil der Szene Waltraute-Brünnhilde, Siegfrieds Ring-Raub von Brünnhilde, im Colón nur als Pantomime zu sehen,  und die Speereide, alles durchaus gekürzt. Dafür kann an anderen Stellen, die in dieser ersten und sicher nicht letzten Version der Kurzfassung des „Ring“ noch relativ ausgiebig ausgeführt sind, bei maximaler Rücksichtnahme auf harmonische Strukturen noch gekürzt werden. Es sind gerade diese kontemplativen Phasen, in denen Wagner den SängerInnen ein paar Momente der Erholung vor den nächsten stimmlichen Herausforderungen gewährte. Ähnliches trifft für die Musiker zu.

 Insgesamt würde sich bei Öffnen dieser Striche eine zweitägige Fassung empfehlen, wobei an beiden Abenden eine Gesamtdauer („Rheingold“ und „Walküre“ am ersten, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ am zweiten Abend) etwa von der Länge einer kompletten „Götterdämmerung“ heraus käme. Das hätte viele, nicht zuletzt auch organisatorische und finanzielle Vorteile angesichts der gegebenen Theaterpraxis und würde auch die Kondition und Konzentrationsfähigkeit aller Akteure sowie des Publikums nicht überstrapazieren, obwohl der ColónRing den Reiz der Erlebens der gesamten Geschichte an nur einem Tag unter Beweis stellte. Es spricht manches dafür, dass mit einer Kurzfassung des „Ring des Nibelungen“ über zwei Abende ein größeres Publikum erreicht werden kann, auch in Ländern und Theatern, wo sich aus den verschiedensten Gründen, bei Stagione-Betriebs schon aufgrund der geforderten Programmgestaltung, die Inszenierung der normalerweise mindestens eine Woche in Anspruch nehmenden Tetralogie gar nicht möglich ist.

Sie könnten sich hiermit die Option erschließen, das Wagnersche opus summum in einem (kurzen) Durchgang zu bringen. Die ersten Publikumsreaktionen, die der BR und die ARD während der Pausen im Foyer des Colón erhoben, waren überwiegend positiv…

(Fotos in der Bildergalerie)

 Klaus Billand

 

 

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