BUDAPEST/ Erkel-Theater: 17.6.2017: „A STREETCAR NAMED DESIRE“ / „A VÁGY VILLAMOSA“. Erfolgreiche Ballett-Uraufführung
Fatale Konstellation: die beiden Schwestern Stella (Lea Földi) und Blanche (Jessica Carulla Leon) mit Schwager Stanley (Balázs Majoros). Copyright: Szilvia Csibi
Mit einer beeindruckenden Premiere beendet das Ungarische Nationalballett die aktuelle Spielzeit: Endstation Sehnsucht hat seine Welturaufführung in der Choreografie von Marianna Venekei. Die Tänzerin und Hauptballettmeisterin des Ungarischen Nationalballetts choreografiert seit 2002; zuletzt war der Pas de deux „Schach matt“ mit der quirligen Jessica Carulla Leon als Schachbrett und Roland Liebich als grübelndem Spieler in der III. Internationalen Iván Nagy Ballett Gala im vergangenen Februar zu sehen.
Mit „A VÁGY VILLAMOSA“ hat sie nun ihr erstes abendfüllendes Handlungsballett geschaffen. Sich an Tennessee Williams kritischem Gesellschaftsdrama orientierend, erzählt sie in zwei Akten mit einer Pause und packenden Bildern die Geschichte der Blanche, die mit einem Koffer voller Erinnerungsstücke an ihre ehemals reiche Südstaatenfamilie nun bei ihrer jüngeren Schwester Stella einzieht, die mit dem einfachen wie jähzornigen Stanley verheiratet ist. Sehr bald gibt es Spannungen in dieser Konstellation. Die aufkeimende Beziehung von Blanche zu Stanleys Freund Mitch bleibt glücklos, da sie den aufrichtig liebenden einfachen Arbeiter nicht als gesellschaftsfähigen Freund akzeptieren kann, gleichzeitig werden ihm von Stanley die Augen über den früheren affärenreichen Lebenswandel von Blanche öffnet, worüber Mitch entsetzt ist – als Mann mit einfachen Grundsätzen ist das für ihn untragbar. Auch mit dem aufbrausenden und brutalen Schwager Stanley kommt Blanche nicht zurecht, der sie schließlich vergewaltigt. Stella ist zwischen ihrer bedingungslosen Liebe zu ihrem Mann, von dem sie ein Kind erwartet und ihrer kapriziösen Schwester hin- und hergerissen.. In ihrer Flucht vor der Realität ertrankt Blanche ihre Unfähigkeit mit dem Leben zurecht zu kommen im Alkohol; sie versenkt sich immer mehr in ihrer Vergangenheit und verliert zunehmend den Bezug zur Realität.
In diesem über eine lange Zeit gewachsenen Projekt hat die Choreografin mit Komponist und Saxophonist László Dés das Libretto erarbeitet. Er hat auch die jazzige und manchmal vielleicht zu leichtgängige Musikcollage für diese Produktion gestaltet. Das Bühnensetting stammt von Gergely Zöldy Z; die Kostüme von Bianca Imelda Jeremias ergänzen bestens und Balázs Csontos hat alles ins richtige knallharte Licht gesetzt. Interessant ist die Bühnenauflösung: die Szenen im Haus von Stella spielen sich auf der Vorbühne ab, da die Musik vom Tonträger kommt und so der Orchestergraben geschlossen ist. Die Bühnentiefe wird sowohl für die peppigen Ensembleszenen genützt, die ein wenig an West Side Story erinnern, als auch um die psychische instabile Verfassung von Blanche aufzuzeigen. Je mehr sich für sie die Grenzen von sentimental behübschter Vergangenheit und trostloser Gegenwart verwischen, umso öfter wird auch (französischer) Gesang eingesetzt. Als weiteren Kontrast zu den übrigen Charakteren lässt die Choreografin nur Blanche in Spitzenschuhen auftreten. Die Bewegungssprache von Marianna Venekei könnte technisch anspruchsvoller sein, sie zielt vor allem auf eine große Ausdrucksstärke ihrer handelnden Figuren ab, die mit viel Einsatz und Power die fatal sich zuspitzende Geschichte umsetzen.
Mit dem weltbekannten Ballett „A Streetcar named Desire“ hat John Neumeier der unvergleichlichen Marcia Haydée 1983 als Blanche DuBois ein balletthistorisches Denkmal gesetzt. Marianna Venekei hat für ihre Version mit Jessica Carulla Leon eine ideale Blanche gefunden. Die Solotänzerin ist fast durchgehend auf der Bühne und trägt mit ihrer starken Persönlichkeit dieses Tanz-Drama. Sie bewältigt die emotionale Herausforderung dieser Rolle großartig und besticht durch dramatische Gefühlsintensität als verblühende ehemalige wohlhabende Südstaatenschönheit.
Halbsolist Balázs Majoros überzeugt als gewaltbereiter Stanley, der seine Schwägerin verachtet. Als Mann, der gewohnt ist im Leben hart anzupacken, verhält er sich auch seiner Frau gegenüber entsprechend grob.
Die Chance, sich in diesem neuen Werk zu profilieren wird sowohl von der Darstellerin der Schwester als auch vom Interpret des Freundes genützt, die beide aus dem Corps de ballet kommen: Lea Földi ist als Stella eine ebenso Zuneigung und Verständnis zeigende Schwester wie sie ihrem Mann in Liebe verfallen ist. Nach außen hin hat sie den Verlust ihrer „besseren“ Herkunft gut verkraftet und ist zufrieden in der heftigen gefühlsintensiven Beziehung zu ihrem aus einfachen Verhältnissen stammenden Mann. Mark James Biocca gefällt als gutmütig-freundlicher Mitch, der sehr bemüht ist, trotz seines Arbeiterhintergrundes für Blanche kultiviert zu erscheinen, um vor ihr zu bestehen.
Wie sehr sich beim frenetischen Schlussapplaus die aufgestaute Anspannung löst, zeigen die emotionalen Momente bei Jessica Carulla Leon und Marianna Venekei. Das Publikum ist begeistert von der Uraufführung und applaudiert minutenlang den Tänzern und dem leading-team.
Ira Werbowsky