BRÜSSEL / Cirque Royal / LUCREZIA BORGIA AM 03. MÄRZ 2013 (Alex Eisinger)
Die am Stephanstag 1833 uraufgeführte Lucrezia Borgia von Gaetano Donizetti (Libretto Felice Romani) nach Victor Hugo’s Drama „Lucrèce Borgia“ hat in einer Neuinszenierung der renommierten Brüsseler Oper La Monnaie/La Munt den Weg in den Cirque Royal gefunden. Der Regisseur Guy Joosten hat sich im Verbund mit Bühnenbildner Johannes Leiacker und Beleuchter Manfred Voss den speziellen Charakter des vorgegebenen Rahmens (Zirkus oder eben Amphitheater) sehr eindrucksvoll zu Nutze gemacht. Ein gigantischer Frauentorso mit Schlange auf nackter Brust, dessen schwarzglänzendes Kostüm sich den Balustraden entlang über das ganze Rund ausdehnt, beherrscht den Raum. Die sich axial gegenüberliegenden Portale mit zur Bühne aufsteigenden Treppen werden von vier grossen Masken dominiert: in Korrelation zur Handlung sieht der Zuschauer *den Tod, die Hure, den Heiligen und den bösen Clown*. Das zirzensische Element, das die Örtlichkeit des Cirque Royal vorgibt, wird auch in den Kostümen und Masken von Jorge Jara konsequent für die Handlung und deren Entwicklung hin zum Finale genutzt: im Venedig spielenden Prolog bevölkern Karnevalskostüme mit den unterschiedlichsten Masken und sogar Clownsnasen für Höflinge und Volk die Szene. Im Verlauf der Vorstellung verfremden sie sich in Fratzen eines grunzenden Haustiers und verwandeln sich für das Schlussbild bei der Fürstin Negroni in furchterregende Totenschädel. Auch die unübliche Herausforderung, nach drei Seiten hin für alle Zuschauer spielen zu müssen, wurde vom Regisseur mit kreativer Fantasie gekonnt gelöst: und da präsentiert sich die die ideale Stelle, dem vorzüglich disponierten Chor (Leitung: Martino Faggiani) nicht nur für seine vokale Qualität, sondern auch für seine choreographische Beweglichkeit hohes Lob zu zollen. Das Orchester unter der Leitung von Julian Reynolds differenzierte einfühlsam zwischen lyrischen und dramatischen Passagen, klang aber mitunter von meinem Platz aus dumpf; Einwand, der bestimmt der Platzierung, nicht aber dem Können des Orchesters anzulasten ist.
Dieses herrliche Werk, von Monserrat Caballé in den 60er-Jahren aus tiefem Dornröschenschlaf zu neuem Leben erweckt, verlangt für die äusserst anforderungsreiche Titelpartie nicht nur einen dem Belcanto verpflichteten Koloratursopran, sondern auch eine Stimme, die im grossen Duett mit ihrem Gatten innert Sekunden von schmeichelnden Lyrismen zu wütender Drohgebärde und dramatischer Attacke fähig ist.
Elena Mosuc ist bei ihrem Partiedébut den skizzierten Anforderungen hervorragend gerecht geworden. Und nach der finalen Bravourarie „Era desso il mio figlio“ war ein mit vielen Bravorufen durchsetzter Beifallsorkan Lohn für eine herausragende Gesangsleistung. In der Darstellung und Charakterisierung der Titelfigur zeichnete die Mosuc kein giftmischendes Monster, sondern eine gedemütigte Frau, die verachtet und verfolgt mit allen Mitteln ihre (Familien-) Ehre zu verteidigen sucht. Mit Rache als Fürstin Negroni will sie sich Genugtuung verschaffen, vergiftet nicht nur ihre Peiniger sondern auch ihren Sohn, was sie nach dessen Tod in den Wahnsinn treibt; und somit blieben die brillant abgelieferten Koloraturkaskaden nicht kaltes Feuerwerk, sondern wurden erfüllter Ausdruck einer leidenden, sterbenden Seele. Charles Castronovo als fesch aussehender Sohn Gennaro wurde grippegeschwächt als indisponiert angesagt; er hat ein angenehmes Timbre, das mich an den jungen Jaime Aragall erinnerte. Er kam ohne hörbare Schwierigkeiten über die Runden, allerdings hätte ich mir an einigen Stellen etwas mehr Intensität oder, wie das die Italiener benennen, *slancio*, gewünscht … aber eben, das lag an diesem Tag offenbar nicht drin … Respekt und Hut ab unter diesen Umständen. Die stimmliche Leistung des Paul Gay als Don Alfonso wurde bereits zur Pause, aber auch nach Ende der Vorstellung, kontrovers diskutiert: einmal mehr manifestierte sich klar und deutlich, dass Stimmen und Timbre stark von persönlichem Geschmack bestimmt werden. Darstellerisch zeichnete der gross gewachsene Künstler das Portrait des seiner Gattin mit Misstrauen begegnenden Ehemanns aber prägnant. Als weiterer Pluspunkt der Produktion darf Silvia Tro Santafé als Maffio Orsini uneingeschränkt gelobt werden: mit bestens verblendeten Registern, sowohl satten Tiefen wie runden Spitzentönen wurde sie allen stimmlichen und darstellerischen Erfordernissen dieser Hosenrolle prächtig gerecht.
Die Freundesgruppe von Orsini, alle mit solistischen und namhaften Ensembles gefordert, sowie die übrigen Nebenrollenträger, seien pauschal mit Lob bedacht: es sind dies die Herren Roberto Covatta, Tijl Faveyts, Jean-Luc Ballestra, Jean Teitgen, Alexander Kravets, Justin Hopkins, Stefan Cifolelli, Alain-Pierre Wingelinckx, Gerard Lavalle und Justin Hopkins.
Diese faszinierende Produktion wird in erster Linie auf Grund der Leistungen von Elena Mosuc, Silvia Tro Santafés und des ungewöhnlichen Spielorts lebhaft in Erinnerung bleiben. Die Reise nach Brüssel hat sich gelohnt.
Alex Eisinger