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Berta Zuckerkandl: FLUCHT

11.05.2013 | buch

Berta Zuckerkandl:
FLUCHT!
Von Bourges nach Algier im Sommer 1940
Hsg. Theresia Klugsberger / Ruth Pleyer
224 Seiten, Verlag Czernin, 2013

Jene Berta Zuckerkandl (1864-1945), die auch noch der Nachwelt ein Begriff ist, spricht aus ihrem Buch „Österreich intim“, das nun glücklicherweise wieder im Handel ist. Wer aber Neues und Tragisches über die große Dame der Wiener Kultur vor 1938 erfahren will, der kann ihr nun auf ihrer Flucht folgen, die für sie (wie für andere) die einzige Alternative zum Konzentrationslager bedeutete (ihre Schwägerin und eine von deren Töchtern begingen Selbstmord, als sie zur Deportation befohlen wurden).

Die ÖsterreichischeNationalbibliothekhat den Nachlass von Bertas Enkels Emile Zuckerkandl (geb. 1922) erworben, der die Aufzeichnungen der Großmutter liebevoll gehütet hat, und die Autorinnen Therese Klugsberger und Ruth Pleyer legen diesen „Fluchtbericht“ nun mit aller editorischen Sorgfalt vor.

1938 war Berta Zuckerkandl vor den Nazis nach Paris geflohen, ihre Aufzeichnungen heben am 17. Juni 1940 an. Die karierten Blätter des Notizbuchs, zuerst Deutsch, dann Französisch, sind im Anhang Seite für Seite abgebildet, davor gibt es eine editorisch exakte Transkription.

Die 76jährige Berta Zuckerkandl hat dies in Algier auf Wunsch ihres Enkel niedergeschrieben, und er bewahrte es so sorgfältig auf wie ihre Briefe. Eine Frau, die sich in der eleganten Welt der Salons, der Galerien, der Theater bewegt hatte, zeichnete auf, wie man sich in einer Welt des Chaos unter andauernder Bedrohung des Lebens fühlte – mit einem Koffer, einer Decke, einem Köfferchen und zu schwach, dies zu tragen. Hunger, Suche nach Unterkunft, die stete Frage, wie man auf der Flucht vor den Deutschen weiterkommt, umgeben von fremden Menschen.

Berta Zuckerkandl schrieb an ihre Familie, ohne zu wissen, wo diese sich befand – in Moulins, das sie per Bus erreichte (von ihrem Sohn Fritz hineingesetzt), strebte sie die freie Zone rund um das 50 Kilometer entfernte Vichy an. Von dort kam sie nach Montpellier, wo sie ihren Sohn wiederfand, Enkel Emile mit seiner Mutter war schon in Marokko. Schier unglaublich, dass Berta Zuckerkandl im besetzten Frankreich eine Nachricht von diesem erreichte…

Berta Zuckerkandl hat es noch 1940 nach Algier geschafft, wohin ihre Familie aus Marokko nachkam: Hier schrieb sie nicht nur den Fluchtbericht, sondern verfasste zu ihren bereits existierenden Erinnerungen noch weitere Aufzeichnungen zu ihrem Leben.

Kriegsende und Befreiung hat Berta Zuckerkandl noch erlebt – die Heimkehr nach Wien nicht mehr. Infolge ihrer durch die Flucht schwer beeinträchtigten Gesundheit schaffte sie es nur nach Paris, wo sie am 16. Oktober 1945 starb und am Père Lachaise begraben wurde.

Die Originaldokumente machen nur einen Teil des Buches aus. Ergänzt wird es durch einen rund 50seitigen Essay, in dem Ruth Pleyer unter dem Titel „Berta Zuckerkandl und die Kunst ihrer Zeit“ noch einmal den Lebenslauf und die Bedeutung dieser Persönlichkeit nachzeichnet, wobei der besondere Schwerpunkt auf ihre streitbarer Vorreiterrolle zugunsten moderner Kunst gelegt wird. Desgleichen schildert die vor allem mit Provenienzforschung und Restitution befasste Autorin, wie der Besitz der Zuckerkandls gestohlen und geplündert wurde. Dass Enkel Emile seinen Nachlass nun nach Wien gegeben hat, mutet da wie ein großzügiger Akt der Versöhnung an.

Renate Wagner

 

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