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BERLIN/ Volksbühne: BECKETTS MINIATUREN UND SEGHALS PERFORMANCES

12.11.2017 | Theater

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Anne Tismer in „Tritte“. Foto: Robert Baltzer

BERLIN: Existentieller Umschwung in der Volksbühne

Ein gelungener Start – Becketts Miniaturen und Seghals Performances verdichten sich zur neuen Vision der Berliner Volksbühne als existentielles Theater

„Wir fangen wirklich an“, nach Chris Dercons Sicht verständlich, zu langwierig, anstrengend waren die Animositäten um seine Person. Und wie ist dieser Anfang? Vor dem Haus auf den Treppenabsatz noch  einmal Agitation mit geschauspielerten leblosen Obdachlosen. „Nur über meine Leiche“, so die Oberaktivistin, die so nervös ist, dass ihr der Text nicht mehr einfällt  und sie sich erst mit einem Besucherhandy die Fragen ins Bewusstsein bringen muss.

Berliner Chaos draußen, drinnen zunächst Irritation, die sich als Teil einer beeindruckende Konzeption erst ganz am Schluss erschließt. Mit allen Sinnen und sehr kontroversen Gefühlen erlebt man diesen ersten Theaterabend tatsächlich als große Wende Richtung Performance, wie viele Kritiker im Vorfeld befürchteten. Technobeats (Sound: Ari Benjamin Meyers) durchpulsen die 600 Besucher, die vorerst am Boden sitzen. Spotlights blenden. Dann ein Moment der Stille. Der Kronleuchter wird als Symbol traditionellen Theaterbeginns heruntergelassen. Die Besucher haben genauso symbolisch den Theaterraum wieder zu verlassen. Leer ist alles, neu soll es sich befüllen.
Erst 45 Minuten später beginnt das „neue“ Theater  mit angekündigten drei Beckett-Miniaturen, davor müht man sich mehr oder weniger intensiv mit Seghals  Performances, konzipiert für Ausstellungen, die in der Stille funktionieren, im Umfeld laut hallender Gespräche im Theaterfoyer bis auf wenige Wortfetzen allerdings unverständlich bleiben. In „Ann Lee“ (2011) und „Ann Lee & Marcel“ (2016) erinnert sich ein Mädchen in ganz normaler Optik mit Roboterbewegungen und -aussprache nach dem Vorbild der Animationsfigur „Aimee“ (Videoinstallation Philippe Parreno), an ihre Geburt vor 6000 Jahren und performiert das Desaster immer dasselbe auf dieselben Fragen zu antworten. Schritt für Schritt zieht sie Marcel in ihre roboterhaftes Dasein.

Genau in diesem Spannungsfeld der menschlichen Existenz zwischen Technologie und Natur, zwischen Sprechen und wirklichem Verstandenwerden bewegt sich dieser Abend. Es ist gleichzeitig ein Abend, der Beckett und seinem existentiellen Theater eine große Hommage erweist.

Becketts frühe Filmarbeiten ziehen als existentielle Quintessenzen  immer noch in ihren Bann, weil sie nichts von ihrer Aussagekraft verloren haben. Im „Geistertrio“ (1975) lösen sich nachdenakliche Menschen mit stechendem Blick beim Zurückgehen oder im sich entfernenden Weitwinkel im Grau ihres einengenden Umfeldes auf. In „Quad I, Quad II“ (1981) formieren sich nacheinander vier  verhüllte gebeugte Gestalten in immer gleichen Wegmustern aneinander vorbei hetzend, und verschwinden plötzlich im Schwarz des Umfelds.

Der Auflösung im Nichts durch Stille, durch  Bewegung folgt  auf der Bühne  die Auflösung des Seins durch  Sprache. Unter der Regie des Beckett-Experten Walter Asmus, einstiger Beckett-Assistent, und durch Anne Tismers außergewöhnliche Artikulationsfähigkeit werden die drei Beckettschen Miniatüren zum existentiellen Erlebnis.

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Morten Grunwald in „He, Joe“. Foto: Robert Baltzer

Den großartigen „Nicht ich“-Monolog (1972) bringt  Anne Tismer in atemloser Sprachartistik mit charismatischer Expression als nicht zu stoppenden Redeschwall blitzlichtartiger Lebenserinnerungen zum Explodieren und löst selbst dabei ganz auf. „Was? Entsetzt? Ha!“ und einem abgründig irren Lachen unterbricht sie refrainmäßig, um immer noch schneller fortzufahren und sich schließlich wispernd aus diesem Leben einer  „Drei-Groschen-Hölle“ hinauszuschleichen. Zu sehen ist dabei nur ihr roter Mund, weiter hinten als greller Lichtpunkt wie Erhellungsmetapher sichtbar. In „Tritte“ (1976) dialogisiert Anne Tismer in verschiedenen Stimmlagen als alte Tochter mit der noch älteren Mutter. Wie eine Mumie schreitet sie im exakt metronomischen Rhythmus  an der Bühnenrampe hin und her als Ausdruck des Gefangenseins im eigenem Denken, alles immer wieder hin und her zu wälzen. In „He, Joe“ 1966, wird Anne Tismer  zur inneren Stimme Joes (Morton Grunwald), der behaglich im Sonnenlicht im Profil in der Ferne sitzt, dessen Gesicht gleichzeitig aschfahl grau in immer größeren Videodimensionen näherrückt. Er hat im Leben „das Beste gehabt, die Liebe“  und diese Liebe in den Selbstmord getrieben. Einsam ist er zurückgeblieben  als  „altes Müllfeuer“.

Ein relativ verhaltener Applaus, ein lauthalses Buh dazwischen, minimiert keineswegs die großartige Wirkung. Minimalistisches Theater als Antwort auf Castorfs theatrales Ausufern. Noch ist der Abend nicht vorbei. Der Bühnenraum wird wieder entstuhlt. Die Kulissen verschwinden. Tino Seghal lässt in seiner Performance „These Associations“ (2012)  über 40 Mitwirkende im Laufschritt die Bühne ausloten, ein skeptisch wahrgenommenes, teilweise doch  ansteckendes Hin und Her beginnt,  dazwischen ein Innehalten, unerwartetes Kontakten, Erzählen von kleinen persönlichen Reisechiffren und ein mitreißendes archaisch rhythmisiertes Singen um die Begriffe „Nature“ und „Technology“ und „defensively“.  Dabei schließt sich der Kreis dieses durchaus innovativen Starts der Volksbühne. Aus bekannten Bausteinen  entsteht in der Fusion  eine innovativ, archaisch verwurzelte, die Künste umfassende Chiffre „Beckett-Seghal“  als Wegmarke für die Zukunft. Man darf durchaus gespannt sein.

Michaela Schabel

 

 

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