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BERLIN / Renaissance-Theater: MARLENE – letzte Aufführung mit Judy Winter, Triumph hoher Schauspielkunst

BERLIN / Renaissance-Theater: MARLENE – letzte Aufführung mit Judy Winter, Triumph hoher Schauspielkunst in einer berührenden Hommage an die große Marlene Dietrich, 4.2.2018

„Sie sind mir böse. Erstens weil ich nach Amerika ging. Zweitens: weil ich nach dem krieg nicht zurückkam. Und Drittens: weil ich zurückkam“

Standing Ovations, Blumen, Tränen – so endete ein unvergesslicher Nachmittag am Renaissancetheater in Berlin. Ein letztes Mal gab sich Judy Winter in dieser Produktion die Ehre. Sie war und ist nicht Marlene, aber ein Bühnentier von Gnaden. Judy Winter führt uns vor, was den Zauber der Bühne ausmacht, wie man vom Besonderen ins Allgemeine abhebt, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Am 28. Juni 1998 hatte diese Inszenierung des Stücks von Pam Gens von Dietmar Pflegerl ihre deutschsprachige Premiere. Seither ist Judy Winter hunderte Male in das berühmte beige Glitterkleid und den Schwanenfedernmantel der Dietrich geschlüpft und hat das Publikum auch bei einem legendären Gastspiel in Japan in Atem gehalten und zuletzt auch als Diseuse tief berührt.

Dabei ist Marlene ja kein Konzert und noch weniger eine Sangestravestie, sondern ein Stück über eine bittere, alternde Schauspielerin und Sängerin, der ihre Vergangenheit noch immer nasskalt den Körper hinunterläuft, die ihre Launen und verzweifelten Aufschreie eines gequälten Lebens ein wenig albern an der Assistentin Vivian auslässt (famos und stark die Österreicherin Ulrike Jackwerth).

Folgedessen haben wir es zuerst mit einem ziemlich angeschlagenen Mythos zu tun. In einer angeramschten Garderobe (Bühnenbild Dieter Klaß) zickt die eitle Diva, was das Zeug hält und lässt ihrem Putzfimmel und Angst vor Syphilisbakterien freien Lauf. In den vielen Schrankkoffern hat sie nicht edle Garderobe und Juwelen gebunkert, sondern Glühbirnen und Stromadapter, Schraubenzieher und sonst allerlei praktisches Gerät. Die preussische Diva mit ihren größten Erfolgen in Hollywood, die vor GIs singende und posierende Antifaschistin, hatte gelernt durchzukommen. Das war auch das Motto, das ihre unendlich schwierige Deutschlandtournee 1960 prägte. Man hat dem internationalen Showstar weder Glamour noch die politische Abkehr von Deutschland nachgesehen. Ihre Auftritte waren damals von Drohungen, unappetitlichen Sprechchören und tiefen Verletzungen geprägt. Marlene Dietrich starb unendlich einsam in Paris, von Medikamenten- und Alkoholsucht gezeichnet.

All das lässt Judy Winter in einem Parforceritt tiefster  Wahrhaftigkeit und Eindringlichkeit zu packendem Bühnenleben erstehen. Unvergleichlich, wie sie in der Garderobe mit Putzfetzen umherschlurft und mit dem Schicksal hadert. Dazwischen führt sie Telefonate mit gelangweilten Millionärsgattinen vor der fünften Scheidung und Verhandlungen mit der New York Times über ein zweiseitiges Interview mit vielen Fotos, Cover inklusive. Nichts ist spontan in diesem disziplinierten Leben, alles Kalkül, die Frau muss ja ihren Lebensunterhalt verdienen. Dass diese moderne Art des Selbstdrills und des Perfektionsstrebens ihren Tribut einfordert, legt Judy Winter auf erschütternde Weise mit einem Seziermesser der Emotionen offen. Die Sehnsucht nach Deutschland wird sie später singen lassen: „Mutter, ich will in die Heimat. Mutter, die Zweit ist zu groß. Mutter ich will in die Heimat, nimm mich in deinen Schoß.“

Judy Winter hat ihren großen Abend, nicht unbedingt stimmlich. Aber ihr Auftritt wird zu einem persönlichen Triumph allerhöchster Schauspielkunst. Mit welcher breit gefächerten Farbpalette an Tönen und Zwischentönen, kleinen Gesten und raffiniertester Temporegie des Sprechens sie das Seelengemälde „Marlene“ kreiert, gehört zum Feinsten, was Theater  überhaupt bieten kann: Die Studie einer Künstlerin, deren abgrundtiefes Verlorensein erst das kathartische Erlebnis der Identifikation erlaubt. Wenn Frau Winter ihr „Sag mir, wo die Blumen sind“ (Am Klavier: Adam Benzwi) haucht, bleibt wohl kein Auge trocken. Zu sehr ist der Text aktuell, so sehr wanken wir als spiegelnde Gefäße der Ohnmacht vor dem augenfälligen Schicksal Verlorener. Charakter hat nicht nur Marlene Dietrich gehabt, auch Judy Winter zeigt Haltung, indem sie am Ende ihr Engagement für die Berliner Aidshilfe für eine kurze Ansprache und Bitte um Mithilfe nutzt.

Fazit: Ein außergewöhnliches Theaterereignis voller Tiefgang, Schwermut, aber auch schrägem Humor. Judy Winter in der Rolle ihres Lebens hat ihren letzten Vorhang zelebriert und wird allen, die sie erleben durften, lange prägend in Erinnerung bleiben.

 Dr. Ingobert Waltenberger