Musikfest Berlin: Kirill Petrenko und das Bayerische Staatsorchester begeistern das Publikum. 14.09.2016
Kirill Petrenko und das Bayerische Staatsorchester, Foto Monika Rittershaus
An diesem Abend stellt sich Kirill Petrenko – im Rahmen des Musikfestes Berlin – erstmals als Konzertdirigent dem hiesigen Publikum vor. Die Philharmonie ist ausverkauft, wollen ihn doch alle die Anwesenden – ab 2018 Chef der Berliner Philharmoniker – live erleben. Er leitet jedoch nicht diese, sondern „sein“ Bayerisches Staatsorchester, eines der ältesten Deutschlands und eine hörbar topfitte Instrumentalistenschar. Ein außergewöhnliches Programm bringt er ebenfalls mit und sorgt so für Abwechslung und Überraschung.
Den Anfang macht das „Lontano für großes Orchester“ von György Ligeti, komponiert 1967. „Um Lontano richtig aufzuführen, muss man Ockeghem sehr lieben,“ schrieb Ligeti zu diesem 10-mimütigen Stück und bezog sich damit auf einen (heutzutage kaum bekannten) Meister des 15. Jahrhunderts. Wie der schichtet Ligeti Dutzende Kanons auf verhalten polyphone Art.
Ligeti hatte in der 1960’er Jahren die Vision einer gleitenden Musik. Sie sei fließend und ohne besondere Akzente zu spielen, empfahl er. Genau so macht es Petrenko, steht ganz ruhig da, bewegt nur Zeichen gebend die Hände. Ligetis Klänge schweben und flirren, bringen Metaphysisches in den großen Saal. Einem Aufschwung folgt feinstes Piano. Erst nach langer Pause lässt Petrenko die Hände sinken und gibt Raum für den herzlichen Beifall.
Auch das „Konzert für Violine und Orchester Nr. 1“ Sz 36 von Béla Bartók, komponiert 1907/08 – drei Jahrzehnte vor der viel bekannteren Nr. 2 – ist nur selten in Konzertsälen zu hören. Es basiert auf Bartóks (unerwiderter) Liebe für die junge Geigerin Stefi Geyer, die dieses Konzert aber nie spielte, es jedoch bis zu ihrem Tod hütete.
Erst 1958 wurde es posthum in Basel uraufgeführt und zeigt die ersten eigenen Spuren eines nicht mehr auf Richard Strauss fixierten Béla Bartók. Den Violinpart gestaltet der weltbekannte Virtuose Frank Peter Zimmermann auf seiner neuen „Général Dupont, Grumiaux“-Stradivari (von 1727).
Frank Peter Zimmermann und Bayerisches Staatsorchester, Foto Monika Rittershaus
Dieser Leihgabe ging ein Drama voraus, musste doch Zimmermann im Februar 2015 seine vorherige, von der ehemaligen WestLB zur Verfügung gestellte Stradivari „Lady Inchiquin“, auf der er 12 Jahre lang konzertiert hatte, an die in neue Hände geratene Pleite-Bank zurückgeben. Die erforderlichen 6,8 Millionen Euro (inkl. Mehrwertsteuer) konnte weder Zimmermann noch ein interessierter Wiener Käufer hinblättern.
Drei Monate lang spielte Zimmermann dann auf einer geliehenen Giuseppe Guarneri del Gesù, danach auf wechselnden Violinen, bis ihm vor einem Konzert in Shanghai Herr Yu, ein chinesischer Unternehmer mit Wohnsitz in Berlin, die jetzige Violine zeigte.
Yu, selbst ein passionierter Geiger, hatte diese Stradivari, auf der einst Arthur Grumiaux gespielt hatte, 2015 erworben. Noch am selben Abend in Shanghai spielte Zimmermann auf ihr ein Brahmskonzert und hat sie seit dem 23. Dezember 2015 als Leihgabe. Nun „gibt es wieder dieses Gefühl, das ich seit der Trennung von der Lady Inchiquin nicht mehr hatte. Ich spiele das Instrument an, und schon der erste Ton klingt für mich, als ob ich zu Hause wäre,“ äußerte Zimmermann in einem Interview mit Peter Hagmann vom 15.5.2016 in der NZZ.
Offenkundig ist Zimmermann mit dem Klang dieser Geige glücklich, und das Publikum wird es ebenfalls. Mit einem superfeinen Solo in d-fis-a-cis startet dieses Bartók-Konzert, ein Liebesgedicht an Stefi, süß, zart, filigran. Bald folgen andere Violinen, weitere Instrumente schließen sich nach und nach an.
Im 2. Satz wird’s kapriziöser, der ist auch mit Ironie gewürzt. Vielleicht ahnte Bartók, dass aus der erhofften Beziehung nichts wird. Eine kurze Feierlichkeit wechselt zu Keckheit und mündet in einem knalligen Schluss. Ein junger Komponist im Wechselbad der Gefühle. Zimmermann, Petrenko und das Bayerische Staatsorchester bringen das plastisch zu Gehör und ernten dafür großen Jubel. Zimmermann bedankt sich für den Beifall mit einem (ungenannten) Bach-Solo als Zugabe und spielt unglaublich geschwind das Allegro, den letzten Satz der 2.Violinsonate a-Moll, BWV 1003.
Mit der „Sinfonia domestica” op. 53 von Richard Strauss, die durchaus keine Sinfonie ist, gestattet sich Petrenko einen weiteren Knüller und beweist mit explodierendem Temperament und ständigem Schmunzeln, wie viel Spaß er an diesem selten gespielten, saftig-schalkhaften Porträt hat. Nichts mehr vom früheren „Heldenleben“, stattdessen Strauss als Großstadtbürger und Familienvater mit Frau Pauline und Sohn Franz in der Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Dass Strauss’ Zeitgenossen dieses „Haushaltswerk“ als banal empfanden, wundert nicht. Strauss selbst dirigierte 1904 die Uraufführung während einer triumphalen USA-Tournee und traf damit wohl genau den Geschmack des dortigen Publikums.
Hier nun mischt das Bayerische Staatsorchester kräftig mit, stürzt sich, angefeuert von Petrenko, mit Verve auf die Themen „Papa kommt von der Reise zurück, müde“ (in f-Dur), auf „Mama“ (in h-Dur) und „Bubi, ein Gemisch, doch größere Ähnlichkeit mit Papa“ (in d-Dur). Bis zum einkomponierten Sex-Akt ist alles zu hören, auch Streit, danach „Liebe, Friede, Eierkuchen“, auch mal angeblich Heldisches.
Ein buntes Sammelsurium mit fröhlichem Schluss, bei dem die Instrumentalisten – insbesondere die Bläser – glänzen. Technicolor für die Ohren, aber mit fein ausgearbeiteten Details. Die Berliner zeigen Humor, sind von Klangfülle und Präzision begeistert und applaudieren heftig. Die Bayern können halt nicht nur prima Fußball spielen (sofern sie denn überhaupt aus Bayern stammen), sie können natürlich auch Wagner. Als Zugabe bieten sie– angetrieben von Petrenko – die Meistersinger-Ouvertüre in einem solchen Tempo, das den Zuhörern fast die Ohren wegfliegen. Danach nochmaliger Jubel.
Ursula Wiegand