Musikfest Berlin 22, Antonio Pappano dirigiert Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, 04.09.2022
Antonio Pappano dirigiert das Orchestra e coro dell’accademia nazionale di santa cecilia © FabianSchellhorn/ Berliner Festspiele
Antonio Pappano und das Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia als Gäste – da war Besonderes zu erwarten, Wer nun wegen des momentanen Überangebots von Musik, Theater und anderer Kunstereignisse am 5. September nicht in der Berliner Philharmonie war, hat Großartiges und auch Seltenes, dargeboten mit Kenntnis und Leidenschaft, verpasst.
Pappano dirigiert ganzkörperlich, widmet sich gelenkig jedem Takt und jedem wichtigen Ton. Er geleitet oder reißt alle mit und hat offensichtlich jeden im Blick. Die Chemie zwischen ihm und diesem Orchester stimmt offensichtlich, er hat es auch auf die Weltbühnen geführt, vermutlich in einem freundlichen Miteinander.
Das alles zeigt sich sogleich beim Eröffnungsstück Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“, komponiert 1899 als Opus 4. Hier ist nun Schönbergs Fassung für Streichorchester von 1916, revidiert 1943 zu hören, ein noch teils spätromantisch wirkendes Werk aus seiner ersten, tonalen Schaffensphase in der Grundtonart d-Moll.
Anlass für Schönberg, anfänglich ein Autodidakt, war ein gleichnamiges Gedicht des Dichters Richard Dehmel, das ihn sehr animiert hat. Es ist im Programmheft abgedruckt.
Die fünf unterschiedlich langen Strophen werden bekanntlich nicht gesungen, sondern musikalisch interpretiert. Ein Liebespaar geht durch eine kalte Mondnacht, und sie gesteht ihm, dass sie von einem anderen Mann schwanger ist, weil sie – ihn noch nicht kennend – ein Kind haben wollte. Er aber zürnt nicht, erfreut sich und will voller Herzenswärme das Kind als das seine anerkennen.
Das Orchester in kleiner Besetzung lässt Pappano leise beginnen. Danach leiten die Musiker und Musikerinnen die Lauschenden einfühlsam durch diese Nacht der beiden Liebenden. Zunächst scheint der Nachtspaziergang geprägt von der Furcht der Frau wegen ihres Fehltritts zu sein. Danach setzen sich jedoch sogleich Verzeihen und Glück durch. Das zu erwartende Kind macht die beiden Menschen froh. Das zeigen zuletzt eine freundlich hüpfende Musik und ein zarter, empfindsamer Schluss.
Nach der Pause dann „der Hammer“ – Ferruccio Busonis Klavierkonzert op. 39, im Programmheft als „ein Werk von architektonischen Ausmaßen und hochgradig virtuos“ bezeichnet. Also ein Riesengebäude in diesem Genre von mehr als einer Stunde Dauer.
Nun sind alle nicht nur zeitlich extrem gefordert. Das jetzt groß besetzte Orchester und auch der Starpianist Igor Levit, dem ein 70 – 80 minütiger Klavierpart bevorsteht. Pappano trägt wegen der Notenfülle nun eine Brille. Ein stattlicher Männerchor steht bereits im Hintergrund, muss sich aber rund eine Stunde gedulden, ehe er im fünften Akt bei „Aladin oder die Wunderlampe“ endlich kraftvoll singen darf.
Herrn Busoni, der selbst ein fabelhafter Pianist war, ist in den fünf Sätzen wirklich sehr vieles und ganz Unterschiedliches eingefallen. Vielleicht zuviel? Denn wegen seiner Länge und Schwierigkeit wird dieses „Concerto“ nur sehr selten dargeboten. Bei der Uraufführung im November 1904 durch das Berliner Philharmonische Orchester sowie den Chor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche unter der Leitung von Karl Muck spielte Busoni wie ein Liszt-Nachfolger selbst den Klavierpart.
Doch das „Musikfest Berlin 2022“ macht solches erneut möglich und ebenso die „Masse Mensch“ auf dem Podium mitsamt dem Pianisten und Antonio Pappano, der diesen eher sinfonischen Dampfer nach dem ersten, noch liedhaften Satz stets sicher durch die teils wild aufschäumenden Klangwogen steuert.
Im zweiten Satz hat Busoni auch Franz Liszt mit ins Boot geholt, im langsamen dritten Satz ist Feierlichkeit angesagt, im vierten namens Vivace überrascht eine lebhafte Tarantella, diedem Pianisten wiederum viel abfordert. Nun ist auch der Männerchor an der Reihe, preist Allahs Nähe und die „ewige Kraft der Herzen.“
Kraft hat dieses Busoni-Werk den Aufführenden sicherlich gekostet, doch der Eindruck überwiegt, dass sie sich voller Freude in dieses äußerst anspruchsvolle Werk hineingeworfen haben. Der erste Geiger, ein noch recht junger Mann, lächelt öfter und hüpft auch mal von seinem Stuhl empor, um noch mehr Power in sein Spiel zu legen.
Da es vermutlich vorher noch eine Generalprobe gegeben hat, reicht dieser „Workout“ sicherlich für eine ganze Woche, auch für den unermüdlichen Antonio Pappano, der in der Spielzeit 2023724 leider nicht nach Berlin wechselt, sondern Chefdirigent des London Symphony Orchestra wird.
Jetzt erstmal umarmt er mehrfach glücklich und dankbar Igor Levit und den 1. Geiger, ruft aber auch andere auf. Das Publikum hat Außergewöhnliches erlebt und bedankt sich mit „Standing Ovations“.
Ursula Wiegand