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BERLIN/ Konzerthaus: NEUNTE SYMPHONIE von Gustav Mahler mit dem „Mahler-Jugendorchester“ unter Philippe Jordan

29.08.2016 | Konzert/Liederabende

BERLIN / Konzerthaus: Gustav Mahler Jugendorchester spielte die Neunte Symphonie seines Namensgebers – Reifer Auftritt nach 12 Jahren Abwesenheit vom Festival Young Euro Classic am 28.8.2016

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Philippe Jordan. Copyright: © MUTESOUVENIR / Kai Bienert.

 Wien und Claudio Abbado: Das war ja nicht nur eine musikalisch ungemein aufregende Zeit an der Wiener Staatsoper. Der italienische Maestro mit einem höheren Sinn für Kulinarik und existenzielle Notwendigkeit gleichermaßen begabt, gründete daselbst 1986 das Gustav Mahler Jugend Orchester mit dem Ziel, den Eisernen Vorhang mit einem Klangkörper, dem junge Musikerinnen und Musiker unter 26 Jahren aus Österreich, der ehemaligen Tschechoslowakei und Ungarn angehören sollten, zumindest partiell zu überwinden. Das Ergebnis war fulminant, einige Jahre später öffnete sich das Orchester für Teilnehmer anderer europäischer Länder.

In Berlin ist das legendäre Konzert 1988 auf der Waldbühne unter Abbado mit der dritten Mahler und Jessye Norman als Solistin noch unvergessen. Jetzt gastierte das technisch und klanglich wohl beste Ensemble unter europäischen Sternen im Rahmen seiner Sommertournee im Berliner Konzerthaus mit Bachs Kantate „Ich habe genug“ BWV 82 und der Neunten Symphonie in D-Dur von Gustav Mahler unter der Leitung des in Paris und Wien unter Vertrag stehenden Schweizer Dirigenten Philippe Jordan.

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Christian Gerhaher, Philippe Jordan. Copyright: © MUTESOUVENIR / Kai Bienert.

 „Zum ersten Mal Bach“ ist auf der Website des Orchesters zu erfahren. Irgendwie hat man gemerkt, dass da allesamt keine eingefleischte Bach-Gemeinde am Werk war, sondern das Bemühen wohl als Ergebnis gelten muss. In für den Saal (zu) kleiner Besetzung trat das Orchester an und begleitete unter dem auf leise Töne bedachten Dirigat stilistisch wohl akzeptabel, aber nicht unter die Haut gehend diese drei Arien auf den Wunsch nach friedvollem Verlassen dieser Erde für Bass/Bariton. Der für seine Schubert Interpretationen zu Recht gerühmte Christian Gerhaher blieb zu den Worten des Simeon im Angesicht des Jesukindes und zukünftigen Erlösers „Ich habe genug, ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen, auf meine begierigen Arme genommen, ich habe genug“, seltsam neutral und in den unteren Registern bisweilen grau. In den Höhen konnte der Sänger schöne Bögen spinnen und in der Schlussarie „Ich freue mich auf meinen Tod“ schließlich etwas aus der Reserve gelockt werden. Die schönste Leistung bot in diesem letzten Teil der Kantate Bernhard Heinrichs auf der Oboe, wiewohl die Balance zwischen dem Soloinstrument und den Streichern zulasten Letzterer zu wünschen übrig ließ. Und so blieb diese wohl „katholischste“ unter den Kompositionen Bachs nicht mehr und nicht weniger als ein Versuch. Lassen wie es dabei bewenden.

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Philippe Jordan. Copyright: © MUTESOUVENIR / Kai Bienert.

Ganz anders nach der Pause: Die Heerscharen der Instrumentalisten (Flöten, Piccoloflöte, Oboen, Englischhorn, Klarinetten, Bassklarinette, Fagotte, Kontrafagott, Hörner, Trompeten, Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagwerk, Harfen und Streicher) variierten bei Mahlers neunter Symphonie ihr „Leb wohl“-Seufzermotiv des ersten Satzes virtuos in immer neuen Konstellationen. Mit dem der Jugend geschuldeten Feeling „Aber nicht auf immer“ verbreiteten sie mehr Hoffnung und Licht als drückenden Endzeitstimmung. Beim teuflisch-schenkelklopfenden Ländler-Totentanz des zweiten Satzes und der kontrapunktisch gearbeiteten Rondo Burleske im dritten Satz konnte immer wieder fasziniert nachgehört werden, wie sehr ein kultivierter Klang, üppige wie Insektenschwärme brummende Streicher und exzellente solistische Leistungen der Bläser einen musikalischen Kosmos zu schaffen vermögen, der die musikalische Welt vor dem Krieg und deren kompositorische Aneignung schillernd destilliert. Philippe Jordan sorgte mit eleganten Gesten und präzisen Anweisungen für eine dynamisch aufregende, die Stimmungskontraste und chromatischen Umschwünge klar gestaltende Wiedergabe. Im transzedentalen Finale fanden Dirigent und Orchester zum sinnstiftenden Choral „Blieb bei mir Herr“ zu überirdisch schönen Tönen. Dieses unglaubliche Adagio, in dem Schmerz und Angst, die Sehnsucht nach Leichtigkeit und irdischen Entsagen schließlich zum finalen Verstummen führen, fanden in diesem fabelhaften Orchester und der aller Erdenschwere fernen Interpretation von Philippe Jordan die besten Anwälte. Mucksmäuschenstill verharrte das Publikum nach den ersterbenden letzten Takten auf ihren Plätzen. Ein kostbarer Moment fern aller Sorgen, Eitelkeiten und Clownerien. Der heftige Applaus mündete schließlich in die bei diesem Festival übliche Schlussshow der Verbeugungen, lautstarken Kundgebungen und Übergabe einer riesigen Sonnenblume an den Dirigenten, der sie an das Orchester weiterreichte… Das Leben muss ja schließlich weitergehen. Fazit: Ein tolles Festival hat an einem der heißesten Tage des Jahres erneut einen aufregenden Abend geboten.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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