Berlin/ Komische Oper: „PELLÉAS ET MÈLISANDE“ von Claude Debussy, Premiere. „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. 15.10.2015
Günter Papendell (Golaud), Nadja Mchantaf (Mélisande). Copyright: Monika Rittershaus
Es ist die erste Premiere im Jubiläumsjahr der Komischen Oper Berlin. Doch das Haus startet nicht leicht und locker in die Party zum 70. Geburtstag. Nein, Barrie Kosky, der Intendant des in den letzten Jahren höchst erfolgreichen Hauses, bringt in eigener Regie erstmals den Dreistünder „Pelléas und Mélisande“ von Claude Debussy auf die Bühne.
Und die ist ein kalter Raum, eine gestaffelte Vierer-Guckkastenbühne in schwarzblau, auf der sich das unentwirrbare Knäuel der kranken Seelen nun schonungslos sichtbar wird. „Ich wollte kein Meer, keine Türen, keinen Turm und auch kein lang herabfallendes Haar. Ich wollte überhaupt keine Möbel auf der Bühne,“ äußert Kosky beim im Programmheft abgedruckten Interview mit Jordan de Souza, dem jungen Dirigenten und seit Anfang der Spielzeit 2016/17 Studienleiter an der Komischen Oper Berlin.
Klaus Grünberg hat Kosky, was die karge Einheitsbühne betrifft, diesen Gefallen getan, und gegen eine solche Reduzierung ist gar nichts einzuwenden. Denn die kommt Debussys wunderbarer Musik zugute, die so fein die Verästelungen und Abgründe der beschädigten Seelen irrlichternd und doch zielbewusst aufgreift.
Jordan de Souza hat sich hineingehört und hineingefühlt. Zusammen mit dem engagiert aufspielenden Orchester des Hauses gehen „Pelléas und Mélisande“ musikalisch voll in Ordnung. Das Geheimnisvolle, das dieser Partitur und dem Stück innewohnt, ist allerdings weniger hörbar. Souza setzt oft eher auf das dramatische Vorantreiben der Handlung .
Das Geschehen basiert auf Maurice Maeterlincks Drama gleichen Namens. Auch in der Opernfassung bleibt das Verhalten der Personen rätselhaft. Etwas Unerklärliches scheint sie zu treiben. Die Metapher dafür haben Kosky und Grünberg in dem gleitenden Boden gefunden. Dieser transportiert alle ohne ihr Zutun auf die Bühne und wieder weg. Bis in den Tod.
Auch Mélisandes Verhalten bleibt unerklärlich. Woher kommt sie, warum ist sie allein im Wald? Ist sie von dem Schiff geflohen, das sie später auf dem Meer von ferne wieder erkennt, hat man sie ausgesetzt, oder hat sie sich schlicht verlaufen? Als erster Mensch begegnet ihr Golaud, der sich beim Jagen im Wald verirrt hat. „Fass mich nicht an“, sagt sie mehrmals Angst erfüllt, und schlingt doch hinter ihm auftauchend die Arme um ihn.
„Denn sie wissen nicht, was sie tun“, diese beiden auch psychisch verirrten Menschen, großartig gesungen und gespielt von Nadja Mchantaf und Günter Papendell, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann, wie seine Mutter – Nadine Weissmann – berichtet. Er heiratet, was nicht gezeigt wird, die schöne Fremde und nimmt sie mit auf sein düsteres Schloss Allemonde, das nur im Sommer von der Sonne beschienen wird. Genau der falsche Ort für depressive Menschen.
Günter Papendell (Golaud), Dominik Köninger Pelléas), Naja Mchantaf (Mélisande). Copyright: Monika Rittershaus
Zu denen gehört erkennbar auch Golauds deutlich jüngerer Halbbruder Pelléas. Der hochgewachsene Dominik Köninger muss das vorübergeneigt im schlecht sitzenden Anzug (Kostüme: Dinah Ehm) mit hängenden Schultern und teils unkontrollierten Bewegungen veranschaulichen. Sein warmer Bariton, der auch diese Tenorrolle meistert, leidet darunter nicht und erreicht bei der finalen Liebesszene mit Mélisande und im Angesicht des bevorstehenden Todes vollen Glanz.
Golaud, extrem viril und im Sportdress, ist hochgradig eifersüchtig. Er ahnt und sieht, dass sich Mélisande und Pelléas näherkommen, zwei Seelenverwandte, die auch beim zunächst kindlichen Miteinander kaum wissen, was sie berührungslos tun und damit dennoch Golaud antun. Den hinderlichen Ehering wirft Mélisande nicht ins Wasser, Sie verschluckt ihn und steckt hinterher vergeblich den Finger in den Mund, um ihn wieder herauszuwürgen.
Für Golaud ist das Verschwinden des Rings der erste Anlass um auszurasten. In dunkler Nacht soll sie ihn suchen. Ist es ein Test, dass Golaud anordnet, Pelléas solle sie begleiten? Denn bald beobachtet er ihn, als der schwärmerisch Mélisandes herabfallendes Haar küsst und sich (und seine Seele) darin verwickelte.
Ein Zweig in Pelléas Hand soll – reichlich abstrakt – den Baum darstellen, in dem sich ihr Haar verfängt. Die Szene, in der Golaud den Pelléas wie zur Probe nächtens in eine kaum erkennbare Grotte führt, ist das letzte geheimnisvolle Geschehen, das wir sehen.
Danach wird’s real und brutal. Und auch nicht mehr stilsicher, wenn der Großvater König Arkel die von ihm bedauerte Mélisande nicht nur küsst, sondern sie auf den Boden wirft, um sich an ihr zu vergehen. Textmäßig ist er ja ein weiser Alter, der für die leidenden Seelen viel Verständnis hat, und zuletzt dafür sorgt, dass die Seele der sterbenden Mélisande ungestört Frieden findet. Mit samtenem Bass singt Jens Larsen diese Partie.
Für Brutalität pur steht nun Günter Papendell. Schon bei der Szene mit seinem (Golauds) Sohn Yniold, den er auf die Schultern nimmt und mit Brachialgewalt dazu zwingt, das unschuldige Miteinander von Mélisande und Pelléas im Turm auszuspähen, zeigt er viel Rohheit. Das erschreckte Kind verkörpert Gregor-Michael Hoffmann und beeindruckt auch mit seinem klarem Knabentenor.
Echt Angst erregend spielt und singt Papendell den extrem Eifersüchtigen, der nun alle Selbstkontrolle verliert. Er macht das überzeugend, zu überzeugend. Er wirft seine hochschwangere Frau Mélisande aus Wut über den von ihm vermuteten Ehebruchs rüde auf den Boden, will sie erschlagen, hätte man ihn nicht daran gehindert.
Mélisande erleidet eine Fehlgeburt, die auch ihren Geist verwirrt, von Nadja Mchantaf hilflos-glaubhaft gezeichnet. Golauds Mutter wischt ihr viel rotes Blut von den Beinen. Golaud bereut, bittet um Verzeihung, und doch will er noch bei ihrem letzten Atemzug aus ihr herauspressen, ob sie sich in „sündige Liebe“ mit Pelléas vereint hat. Ein Zerstörer, der nicht mehr weiß, was er tut.
Sie sagt nein, doch Kosky hat es zuvor anders gezeigt. Beim letzten Treffen von Mélisande und Pelléas ergreift sie die Initiative, reißt ihm die Kleider vom Leib. Er, plötzlich ein Mann, tut das Gleiche. Ein Sex-Akt im Angesicht des nahen Todes, in ihrer Verzweiflung wissen sie nun genau, was sie tun, denn Golaud lauert schon hinter einem Baum. Mit einem Gürtel erdrosselt er seinen Halbbruder.
Und eines tun alle Sängerinnen und Sänger ganz gewiss. Sie werfen sich in ihre Rollen und singen sich die beschädigten Seelen aus den Leibern. Die junge Nadja Mchantaf lässt das Publikum atemlos staunen. Je mehr sich die Handlung zuspitzte, umso imponierender wird das Dreigestirn Mchantaf , Papendell und Köninger.
Entsprechend heftig und anhaltend dröhnt der Beifall für sie und alle übrigen, auch für Samulí Taskinen als Arzt, durch das ausverkaufte Haus. Ebenso für Barrie Kosky und sein Regieteam. Trotz einiger Einwände – schon wegen dieser großartigen Interpreten und Debussys wunderbarer Musik lohnt sich der Besuch von „Pelléas und Mélisande.
Weitere Termine am 21. und 28. Oktober, am 17. November sowie am 02., 14. und 23. Dezember. Bei der schon traditionellen Wiederaufnahme aller Premieren ist das Werk auch am 12. Juli 2018 zu erleben.
Ursula Wiegand