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BERLIN/ Komische Oper: CENDRILLON von Massenet. Die „Suche nach dem Superstar“ als moderner Ausweg aus sozialer Enge? Premiere

13.06.2016 | Oper

BERLIN / Komische Oper CENDRILLON Premiere, 12.6.

Die „Suche nach dem Superstar“ als moderner Ausweg aus sozialer Enge? 

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Karolina Gumos und Ensemble. Copyright: Monika Rittershaus

Wer außer der fest verschweissten Community der Schallplattensammler kennt schon Massenets Cendrillon? Die hüten ihre Vinyls der Weltersteinspielung unter Julius Rudel mit Frederic van Stade, Nicolai Gedda, Ruth Welting, Jane Berbie und Jules Bastin verständlicherweise als Juwelen in ihren Regalen. Umso willkommener, dass sich die Komische Oper dieser „liebenswürdigen Spezialität“ (Zitat Claude Debussy) als erstes Opernhaus in Berlin überhaupt annimmt. Und mit Daminao Michieletto einen Regisseur gefunden hat, der die Handlung ins Heute übersetzt, ohne im Kalt-Politischen zu verharren, sondern auch der dämonisch surrealen Dimension alles grausam Märchenhafte und der zauberhaften Liebesgeschichte ihre uneingeschränkten Rechte zukommen lässt. 

Leistungsschau als voyeuristische Angelegenheit eines (TV-) Millionenpublikums und der Traum vieler Teenager, selbst zu einer Märchenfigur via Berühmtheit zu werden. Dass dieser Wunsch auch bei allerhöchster Erfüllung auf tönernen Beinen steht, weiß man spätestens seit dem Geständnis von Lady Gaga, den Ruhm zu hassen. Isolation statt normales Leben, Vorlage für Selfies statt als Mensch wahrgenommen zu werden. Oder anderes Beispiel gefällig: In Orlando wurde vor drei Tagen die 22-jährige Sängerin Christina Gimmie nach einem Konzert während der Autogrammstunde erschossen, bevor der Mörder (ein Fan?) sich selbst das Leben nahm. Sie war durch die Castingshow „The Voice“ bekannt geworden. So oder so enden Befreiungsversuche à la Superstar: Diese tragische Dimension des Massenet‘schen Aschenbrödel findet nach den Ideen des großartigen Regisseurs Michieletto zu einem anderen Moment statt: Nach einem tragischen Unfall auf der Bühne ist Lucette (Cendrillon) wegen einer schweren Beinverletzung ans Krankenbett gefesselt. Ihr Märchenprinz, ebenfalls von den gesellschaftlichen Zwängen in eine Rolle gezwängt, sehnt sich nach Befreiung aus seinem eigenen erstickenden Korsett durch die wahre echte einzige Liebe. 

Die Szene stellt einen langen leeren Ballettsaal mit Stangen und Spiegel dar (Bühnenbild: Paolo Fantin), der auch als Krankensaal für Lucette dient. Eine alte Fee (koloraturgewandt Mari Eriksmoen) und ihre sechs Geister wachen über das Geschick von Lucette. Zwischen Traum und Wachen, einer lieblosen Stiefmutter (umwerfend komisch und mit Prachttiefe Agnes Zwierko) und deren heiratsbesessenen Töchtern Noémie und Dorothée (gediegen Mirka Wagner, Zoe Kissa) ersehnt sich Lucette ihren Traumprinzen, der in dieser Aufführung nicht von einem Tenor, sondern als Hosenrolle von einem Mezzo (Karolina Gumos) gesungen wird. Lucette kämpft um einen Ausweg, um die Möglichkeit, wieder glücklich zu sein. Die Fee bietet nach den Intentionen der Regie keine Flucht aus der Realität, sondern die Möglichkeit, dieser wenngleich grausamen  Realität entgegenzutreten. 

Im Endeffekt ist dieser Ansatz poetischer als jede vordergründige Märchenadaption dies zuließe. Die beiden jungen Leute auf der erfolgreichen Suche nach dem Glück, weil sie sich der Wahrheit und den Bedingtheiten des Lebens stellen und trotz gesellschaftlicher Normen und Zwänge ihren eigenen Weg zueinander finden. Da spielt der gläserne Schuh nur noch eine symbolische Funktion und die beiden bösen Schwestern haben gar keine Macht mehr. Aufgewertet wird allein schon durch die herrliche Musik Massenets der Vater Pandolfe (mit väterlicher humaner Attitüde Werner Van Mechelen), der zu seiner Tochter hält und sie auch in verzweifelten Momenten nicht im Stich lässt. 

Beim zweiten Liebesduett wandelt sich die Szene in einen elfenartigen Winterzauber, eine Tänzerin und ein Tänzer (Veselina Handzhieva, Miguel Angel Collado) doppeln Lucette und ihren Märchenprinzen und legen durch ihren sinnlich bewegten Auftritt (ChoreographieSabine Franz) die innerste Seele der beiden Protagonisten offen.

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Nadja Mchantaf, Karoline Gumos. Copyright: Monika Rittershaus

Die musikalische Seite? Nun, ich habe an der Komischen Oper Berlin noch nie eine künstlerisch so geschlossene Vorstellung erlebt. (Noch) GMD Henrik Nánási, der mich bei Mozart mitunter schwer enttäuscht hat, ist in der Form seines Lebens. In einem Interview für das Programmheft attestiert Nánási Massenet ein unglaubliches Gespür für Proportionen. Und: „Er verfügt souverän über sein Handwerk und die Stoffe. Geschmack und Stil, Eleganz und Balance sind ihm sehr wichtig, daher rührt sein Formbewusstsein.“ Ist Massenets Musik Kitsch? NEIN. Die Komische Oper – und das ist das Hauptverdienst der Aufführung – erbietet einem hochseriösen frz. Komponisten volle Ehr. Massenets Cendrillon ist dank Nánasi und dem fabelhaften Orchester der Komischen Oper in der Qualität dieser Premiere um keinen Deut schlechter als Werther oder Manon, nur einfach im Schatten des Rossinischen Opera Buffa Cenerentola unbeachtet liegen geblieben oder einem kriegs- und mentalitätsbedingten Irrtum der Musikgeschichte erlegen. Das wird sich ab heute hoffentlich ändern. 

Wenn dafür zwei Sängerinnen vor den Vorhang zu holen sind, dann sind das ganz klar der Superstar von morgen, Nadja Mchantaf, als Lucette (Cendrillon), und Karolina Gumos als Prince Charmant. Nadja Mchantaf, mit einer Stimme wie Milch und Honig gesegnet, wird zur nächsten Spielzeit von der Dresdener Semperoper ins Ensemble der Komischen Oper Berlin wechseln. Dafür kann man der Direktion der Komischen Oper nur gratulieren. Ich habe mir heute die CD-Aufnahme mit Frederica van Stade und Nicolai Gedda als Einstimmung angehört. Und siehe da. Die Premiere an der Komischen Oper hat die CD musikalisch getoppt. Eine verkehrte Welt? Normalerweise ist die Komische Oper gut für eine originelle Regie, oftmals camp und frech, manchmal übertrieben ins Skurrile gesteigert. Die musikalische Seite war dabei in der Vergangenheit oftmals in die zweite Reihe gerutscht. Und gerade bei Cendrillon ist nun alles anders. Eine Weltklasseproduktion rein vom Musikalischen her und eine sehr gute, berührende Regiearbeit auf der anderen Seite rund um die „Erfolgsgeschichte einer unscheinbaren ins Abseits gedrängten, aber moralisch guten Person, die, mit etwas Hilfe erreicht, was sie verdient“ (Zitat Nánási).

Am Schluss berechtigter Jubel für alle, Buhs habe ich keine gehört. Selbst an der französischen Aussprache des Chors (Einstudierung Andrew Crooks) und der Solisten habe ich nichts zu beckmessern. Da fällt auch nicht ins Gewicht, das natürlich auch diese Regiearbeit nicht ohne Firlefanz (die männlichen Choristen dürfen in Tütüs und Perücke ebenfalls um die Gunst des Prinzen buhlen) auskommt. Aber vielleicht ist das ja schon ein PR-Vorgriff auf das Gastspiel des Ballets Trockadero de Monte Carlo ab 19. Juli dieses Jahres an der Komischen Oper.

Fazit: Hingehen, anschauen, anhören, sich verzaubern lassen von der magisch lyrischen spätromantischen Musik Massenets und zwei neuen schönen weiblichen Sternen am Opernhimmel: Nadja Mchantaf und Karolina Gumos.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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