Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BERLIN/ Komische Oper: CENDRILLON von Jules Massenet. Zwei Sensible vertrauen auf die Liebe.

11.07.2016 | Allgemein, Oper

Berlin/ Komische Oper: CENDRILLON“ von Jules Massenet. Zwei Sensible vertrauen auf die Liebe. 10.07.2016

cd285d02078d38ba784b8ab47ce4a13c
Karolina Gumos (Le Prince charmant) und die Bräute-Show, Foto Monika Rittershaus

Vor der Pause geht ein Lachen durch die Publikumsreihen. Cendrillon, das Aschenputtel im Ballkleid, das auch echt tanzen kann, springt mit Schwung auf ihr OP-Bett, und weg ist sie. Mit diesem Gag endet ihr nächtlicher Ausflug in den königlichen Ballsaal, bedeutet für sie aber ein Zurück in die triste Realität.

Die sieht jedoch in der französischen Variante – mit dem Libretto von Henri Cain nach dem Märchen von Charles Perrault – und vor allem in der Regie von Damiano Michieletto weit weniger simpel zielführend aus als in der Version der Brüder (früher Gebrüder) Grimm.

Denn Michieletto überführt das altbekannte Stück in seiner ersten Operninszenierung ohne krampfhafte Kraftmeierei in die Wirklichkeit und setzt auf die Liebe zweier hochsensibler junger Menschen. Die fein geschneiderte Musik von Jules Massenet, die das Märchen mit Esprit in ein geschmackvolles Gewand hüllt, hat ihm diese Fährtensuche sicherlich erleichtert, zumal Henrik Nánási mit dem perfekt aufspielenden Orchester der Komischen Oper für all’ das Auf und Ab der Gefühle stets den richtigen Faltenwurf findet.

Schön muss dieses Aschenputtel auch hier sein, anders geht’s wohl nicht. Doch Michieletto bleibt nicht bei „la beauté“ stehen. Bei ihm müssen die beiden jungen Leute innere und äußere Schranken überwinden. „ja“ zu sich selbst und zu dem geliebten Menschen sagen.

Cendrillon ist bei ihm kein Mädchen, das in der Küche den Dreck wegmachen muss. Sie ist eine Tänzerin, die einen Unfall erlitten hat, der ihre Karriere zunichte macht und sie in Verzweiflung stürzt.

Nachdem eine alte Frau (Evelyn Gundlach) – mit weißen Tanzschuhen in der Hand – die Bühne betreten und ein paar Töne auf einem Klavier gespielt hat (Bühnenbild: Paolo Fantin), macht der Regisseur einen Schwenk in einen vollen Ballett-Trainingssaal. Als Ballettmeisterin der jugendlichen und betagten Eleven – der Chor, einstudiert von Andrew Crooks,  und urkomisch – agiert hier wie eine Dompteuse Madame de la Haltière, mit Aplomb von Agnes Zwierko gesungen und gespielt. Große Aufregung allenthalben, hat sich doch der König angesagt. Sein Sohn soll sich unter den Tänzerinnen eine Braut auswählen.

Endlos-Stoffbahnen, die aus einer Nähmaschine hervorquellen, wickeln sich für ihre beiden Töchter zu hochfeinen Kleidern (Kostüme: Klaus Bruns), auch werden die Mädels auf Haltung und gutes Benehmen getrimmt. Doch gegenüber ihrer Stiefschwester Cendrillon führen sich die zwei – Noémie (Mirka Wagner) und  Dorothée (Zoe Kissa) – wie ihre Mutter genau so bösartig auf wie bei den Brüdern Grimm.

Alle drei machen und singen das allerdings mit gekonnter Übertreibung, also mit einem gewissen Augenzwinkern. Wären da nicht die sechs netten alten Damen als gute Geister, angeführt von der jungen norwegischen Sopranistin Caroline Wettergreen, die mit Schönklang der Verletzten immer wieder Mut zuspricht, Cendrillon müsste alle Hoffnung verlieren.

Denn auch Centrillons Vater Pandolfe, der sich nach dem Tod seiner Frau in die Region von Madame de la Haltière hinaufgeheiratet hat, wird ständig schikaniert und ist seiner Tochter zunächst kaum eine Hilfe. Doch es belastet ihn sehr, was seine geliebte Lucette (ihr richtiger Name) in diesem herzlosen Umfeld erdulden muss.

Umso warmherziger singt und spielt Werner van Mechelen diese Vaterliebe heraus, und wird schließlich doch noch aktiv. Er wirft mit dem Stuhl nach Madame und schmiedet Pläne, mit seiner Tochter zurück in die bescheidene Bleibe auf de Land zu fliehen. Wie sich beide dieses Glück zu zweit gesanglich ausmalen, bleibt im Gedächtnis. Massenet und sein Texter haben diesen Vater vom Hanswurst zum Mann gemacht.

cf62741f3deaf6cf4270b23b88145760
Nadja Mchantaf (Cendrillon), Karolina Gumos (vorne, Le Prince charmant), Foto Monika Rittershaus

Doch irgendwie kommt er zu spät, denn gleich bei Cendrillons Erscheinen auf dem Ball, hat es bei den beiden jungen Leuten gefunkt. Er ist ihr erträumter Märchenprinz, und beide werden zum Traumpaar des Abends: Nadja Mchantaf als Cendrillon (Lucette) und die superschlanke Karolina Gumos in der Hosenrolle des charmanten Prinzen (Le Prince charmant).

Der aber, sich im Kapuzenpulli versteckend und den Forderungen seines herrischen königlichen Vaters (Carsten Sabrowski) trotzend, ist fast ein Fall für den Psychiater. Der junge Mann fühlt sich ständig allein, der kann niemanden lieben. Allerdings würde wohl jeder vor den ungestümen Möchtegern-Bräuten – auch kräftige Männer im Tütü – erschreckt flüchten, so wie er es tut.

Lucette begegnet ihm in seinem Zimmer, die zwei sind allein, und schon ist es um ihre Herzen geschehen. Ein gesanglicher und darstellerischer Höhepunkt mit allen Facetten. Später haben sie ein echtes Tanzpaar (Veselina Handzhieva, Miguel Angel Collado, Choreographie: Sabine Franz) als Doppelgänger. Die zeigen das, was Lucette und der Prinz empfinden, aber noch nicht ausdrücken können.

Doch, wie anfangs erwähnt, die Realität ist bitter. Wie von Sinnen irrt Cendrillon in ihrem weißen OP-Hemd und mit geschientem Bein durch den Wald, irgendwo ist auch die Stimme des Prinzen zu hören. Erst nach Tagen wird sie halbtot gefunden. Der Ball und ihr Märchenprinz – alles nur ein Traum, eröffnet ihr der Vater, der ihre Fieberfantasien gehört hat.

Doch da war wirklich was. Bei der nächsten Bräute-Show – alle exakt nummeriert – kommt auch Cendrillon, nicht im Ballkleid, sondern in ihrem  weißen Hemd und mit dem geschienten Bein (überzeugend) humpelnd. Eine behinderte Liebende. Inmitten von Staunen und Gelächter erwählt der Prinz, nun erwachsen geworden, genau sie. Zwei Verletzte an Leib und Seele, die sich mutig zueinander bekennen und gemeinsam durchs Leben gehen wollen. Welch eine ungewöhnliche und doch total überzeugende Aschenputtel-Variante, glaubhaft gemacht durch zwei großartige Sängerinnen/Darstellerinnen.

In weiteren Rollen Christoph Späth als Le Doyen da la Faculté, Nikola Ivanov als Le Surintendant des plaisiers und Philipp Meierhöfer als Le Premier Ministre.

Zuletzt heftiger Jubel für alle, Ovationen für das Traumpaar und ein glanzvoller Abschluss für die nun beendete Saison. Eine Wiederaufnahme ist in der kommenden Spielzeit nicht im Programm. Das darf doch nicht wahr sein!    

Ursula Wiegand

 

Diese Seite drucken